Verdacht auf politischen Mord:Die Bedrohung wächst schneller als befürchtet

Erschossener Regierungspräsident Lübcke in Heimatort beigesetzt

Das Konterfei des getöteten Kasseler Regierungspräsideten Walter Lübcke (CDU) am Sarg bei einem Trauergottesdienst in der Martinskirche in Kassel (Archiv).

(Foto: dpa)
  • Der 45-jährige Stephan E. gilt als tatverdächtig, vor gut zwei Wochen den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen zu haben.
  • Noch erschließt sich die ganze Tragweite des Falls nicht. Der Tatverdächtige schweigt, und die Ermittler der Soko mühen sich, die drängenden Fragen zu klären.
  • E. war früher aktiv in der NPD und nach Angaben aus Sicherheitskreisen auch bei den Autonomen Nationalisten.

Von Florian Flade, Georg Mascolo, Ronen Steinke und Ralf Wiegand

Es hätte ein Anschlag von großem Ausmaß werden können, am Tag vor dem Heiligen Abend des Jahres 1993. Damals löschten beherzte Bewohner einer Unterkunft für Asylbewerber im hessischen Hohenstein-Steckenroth ein Auto, das lichterloh brennend zwischen ihren Wohncontainern stand. Was sie nicht wussten: Auf der Rückbank lag eine Rohrbombe, die jederzeit hätte explodieren können, wenn das Feuer sie erreicht hätte. Der Mann, den die Sonderkommission Wiesbaden damals schon kurz nach der Tat aufgrund von Zeugenaufnahmen festnahm, sitzt nun, mehr als 25 Jahre später, wieder in Untersuchungshaft: Stephan E., heute 45, gilt als tatverdächtig, vor gut zwei Wochen den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen zu haben.

Die Ermittlungen im Fall des getöteten früheren CDU-Politikers waren mühsam, ein Durchbruch war bis zum vergangenen Wochenende nicht abzusehen. Meldungen von einer spektakulären Festnahme machten vor wenigen Tagen Schlagzeilen, aber die Spur war zunächst kalt. Wer den 65-Jährigen in der Nacht auf Sonntag, 2. Juni, vor 0.30 Uhr auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen-Istha mit einem Schuss aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet hatte, blieb unklar. Zuletzt schien der Polizei auch eine Beziehungstat möglich zu sein. Dann kam Bewegung in die Sache, Ende der vergangenen Woche ging bei der hessischen Sonderkommission "Liemecke" das Ergebnis eines DNA-Abgleichs ein. Die Ermittler hatten die Spur direkt auf der Leiche gesichert, der Computer meldete eine eindeutige Identifizierung: Stephan E., geboren 1973. In der Nacht auf vergangenen Samstag, gegen zwei Uhr, nahmen Beamte des hessischen Spezialeinsatzkommandos den Mann fest. Eine Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden.

Ein angekündigter Tod

14. Oktober 2015 Bei einer Bürgerversammlung zu einer Erstaufnahme-Unterkunft in Lohfelden bei Kassel sagt der Regierungspräsident von Kassel, Walter Lübcke, dass es jedem freigestellt sei, Deutschland zu verlassen, der mit einer auf christlicher Nächstenliebe beruhenden Flüchtlingspolitik nicht einverstanden sei. Nachdem seine Äußerungen im Internet hochgeladen werden, erhält Lübcke Morddrohungen.

Februar 2019 Das fast dreieinhalb Jahre zuvor hochgeladene Video aus Lohfelden mit den Äußerungen Lübckes kursiert auf einmal wieder auf Blogs.

2. Juni 2019 Lübcke wird kurz nach Mitternacht schwer verletzt auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha aufgefunden. Er stirbt wenig später im Krankenhaus. Die Obduktion ergibt, dass er den Folgen eines Kopfschusses erlegen ist.

3. Juni 2019 Das hessische Landeskriminalamt hat eine Sonderkommission eingesetzt. Die Hintergründe der Tat sind völlig unklar. Es wird "in alle Richtungen" ermittelt.

8. Juni 2019 Aufgrund der Auswertung von Mobilfunkdaten nimmt die Polizei einen Mann fest. Er wird jedoch einen Tag später wieder auf freien Fuß gesetzt.

15. Juni 2019 Die Polizei nimmt den 45-jährigen Stephan E. unter dringendem Tatverdacht fest. Der Mann hat offenbar Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen. Die Ermittler sind ihm bei der Auswertung von DNA-Spuren am Tatort auf die Spur gekommen.

17. Juni 2019 Weil sich der Verdacht auf einen rechtsextremistischen oder gar rechtsterroristischen Hintergrund der Tat erhärtet, übernimmt die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen. SZ

Seitdem geht alles ganz schnell: Die hessischen Ermittler informierten die Landesregierung, am Sonntag war auch der Generalbundesanwalt im Bilde. Karlsruhe zögerte nicht, gleich am Montagmorgen übernahm man das Verfahren, und das heißt nun: Die Ermittler gehen von einem rechtsextremistischen oder rechtsterroristischen Hintergrund aus.

Die Ermittler mühen sich, die Indizien zusammenzufügen

Noch erschließt sich die ganze Tragweite des Falls nicht. Der Tatverdächtige schweigt, und die Ermittler der Soko mühen sich, Stück für Stück die drängenden Fragen zu klären. Zu ihnen gehört, warum Stephan E. sich ausgerechnet dieses Opfer ausgesucht haben könnte, ob es außer einer politischen Motivation auch einen persönlichen Grund geben könnte. Und warum jemand mit einer rechtsextremistischen Gesinnung, der aber seit 2010 nicht mehr durch Straftaten aufgefallen ist, nun sogar einen Menschen umgebracht haben soll.

Die Tat erinnert sehr an das Messer-Attentat auf Henriette Reker, die am 17. Oktober 2015 als Kandidatin für die Kölner Oberbürgermeisterwahl von dem Rechtsextremisten Frank S. niedergestochen wurde. Reker war, wie jetzt der Kasseler Regierungspräsident Lübcke, auf kommunaler Ebene für die Unterbringung von Flüchtlingen zuständig. Die rechtsextreme Karriere des Reker-Attentäters, der zu 14 Jahren Haft verurteilt worden ist, lag zum Zeitpunkt des Anschlags schon fast zwanzig Jahre zurück - vermutlich erst sein Hass auf die vielen Flüchtlinge des Jahres 2015 hatte ihn wieder radikalisiert. Anders als Lübcke überlebte Henriette Reker, sie ist heute Stadtoberhaupt von Köln.

Im Fall Lübcke zeichnet sich nun ein ebenso hässliches wie politisch bedeutsames Geschehen ab: ein Mord an einem Politiker, begangen von einem Rechtsextremisten. Dass Rechte morden, gab es in der Geschichte des Landes immer wieder, aber die Opfer waren Ausländer, Asylbewerber, im Fall des NSU eine Polizistin. Anschläge auf Politiker - das war einst die Methode der RAF. Und das ist lange her.

Die Zahl der Gefährder steigt weiter an

Mindestens ebenso beunruhigend ist die Auswahl des Opfers: Walter Lübcke war ein Regierungspräsident, der einen Ruf als bürgernaher Politiker hatte. Solche Leute haben keinen ständigen Polizeischutz, so wie etwa Innenminister der Länder oder viele der Angehörigen des Bundeskabinetts.

Sie sind leicht zu treffen. Für die Sicherheitsbehörden bewahrheiten sich mit der Tat schlimmste Befürchtungen. Die Bedrohung durch rechtsextreme Gewalttäter und Terroristen nimmt seit Jahren zu. Die Zahl der Gefährder steigt weiter an. Bei Polizei und Verfassungsschutz werden die hierfür zuständigen Abteilungen ausgebaut - aber die Bedrohung wächst offenbar schneller als die Behörden.

Es wird jetzt um die Frage gehen, ob der mutmaßliche Täter allein handelte oder ob ein ganzes Netzwerk rechter Kameraden eingeweiht war. Über Stephan E. ist eine Menge bekannt. Er lebt seit vielen Jahren in Kassel, das als Hotspot der rechten Szene in der Region gilt. In Kassel schlug auch die Mordbande NSU zu, hier konnte die rechte Terrorzelle auf ein Umfeld von Unterstützern zählen. Der Name von Stephan E. ist im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Mordserie auch gefallen, als die Kasseler Neonazi-Szene im Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag näher beleuchtet wurde. Stephan E. wurde in diesem Zusammenhang als Beispiel für einen "gewaltbereiten Rechtsextremisten" genannt - jedoch nicht als Mitwisser oder Unterstützer des Trios Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe.

Es geht um die Frage, ob die Behörden ihn aus den Augen verloren haben

Tatsächlich war E. früher aktiv in der NPD und nach Angaben aus Sicherheitskreisen auch bei den Autonomen Nationalisten, jener Turnschuhe und Kapuzenpullover tragenden Neonazi-Fraktion, die den Stil der linken Szene imitiert. An mehreren rechten Kundgebungen in Hessen und Nordrhein-Westfalen soll er teilgenommen haben. 2009 soll er an einem Angriff auf eine Gewerkschafterdemo in Dortmund beteiligt gewesen sein, aber auch noch sehr viele weitere einschlägige Delikte finden sich in seinem Vorstrafenregister, von schwerer Körperverletzung über Landfriedensbruch bis hin zu Verstößen gegen das Waffengesetz.

Für seine Beteiligung an dem versuchten Sprengstoffanschlag auf das Flüchtlingsheim im hessischen Hohenstein im Jahr 1993 war er vom Landgericht Wiesbaden zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Das Gericht hielt ihn des versuchten Totschlags sowie des "versuchten Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion" für schuldig. Der Mann war aber zuvor schon wegen anderer Straftaten mit rassistischem Hintergrund aktenkundig, er soll seine ausländerfeindlichen Handlungen allerdings stets alleine geplant, vorbereitet und ausgeführt haben.

Es geht nun um die Frage, ob die Behörden ihn in den vergangenen Jahren aus den Augen verloren, womöglich seine neu erwachten Aktivitäten übersehen haben. In den vergangenen Jahren war es ruhiger geworden um Stephan E., er hatte geheiratet, das Paar hat zwei Kinder. Stephan E. war zuletzt nicht als rechtsextremer Gefährder eingestuft. Polizei und Verfassungsschutz hatten ihn nicht mehr auf dem Schirm.

Bei der Auswertung seines Handys haben die Ermittler nach Informationen von SZ, NDR und WDR inzwischen allerdings zahlreiche hetzerische Kommentare in sozialen Netzwerken entdeckt, vor allem bei Youtube. 2018 soll er dort unter dem Alias "Game Over" unter anderem geschrieben haben: "Entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben". Ein anderer Kommentar: "Schluss mit Reden es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen 'nichts' zu tun, Feigheit."

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