Kriegsalltag in Libyen:Leben zwischen Luftangriffen

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Spuren des Krieges: Immer wieder greifen die Konfliktparteien aus der Luft an, hier im vergangenen Herbst in einem Vorort im Süden der Hauptstadt Tripolis. (Foto: Mahmud Turkia/AFP)

"Nicht mal vor Krankenhäusern schrecken sie zurück": In Tripolis ist die Angst greifbar. Milizen marodieren, Rebellen beschießen die Stadt.

Von Moritz Baumstieger und Paul-Anton Krüger

Wenn Haitham Nasser nach seiner Nachtschicht heimfährt, hat er mehr Zeit zum Erzählen, als ihm lieb ist. Der 38-Jährige ist Arzt in einem Krankenhaus im Abu-Salim-Viertel im Süden von Libyens Hauptstadt Tripolis. Bis vor Kurzem fuhr er nach der Arbeit in der Notaufnahme keine fünf Minuten, dann war er zu Hause, erzählt er auf der Heimfahrt am Telefon. Am 30. Dezember entschloss er sich aber, seine Wohnung aufzugeben. Die Truppen der sogenannten Libyschen Nationalarmee des Kriegsherrn Khalifa Haftar rückten immer näher. Seine Frau und die zwei Töchter hatte Nasser schon vor Monaten bei den Eltern einquartiert, nun wurde die Lage auch ihm zu gefährlich. Seither fährt er nach der Arbeit ans andere Ende der Stadt, dann fällt er todmüde ins Bett.

Die Frontlinie verläuft nun knapp einen Kilometer von Nassers Krankenhaus entfernt. Haftars Armee feuert von dort mit Artilleriegeschützen in die Stadt hinein. Und die Milizen, die Tripolis verteidigen, feuern zurück. Auf Zivilisten nimmt keine der Seiten Rücksicht, sagt Nasser - und weil das so ist, hat er gebeten, ihm in diesem Text einen anderen Namen zu geben. "Nicht mal vor Krankenhäusern schrecken sie zurück, im Gegenteil!", ruft er ins Telefon. Er und seine Kollegen hätten bisher Glück gehabt, die einzige Granate, die den Gebäudekomplex erreichte, zerstörte ein Ambulanzfahrzeug auf dem Parkplatz.

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Dass Krankenhäuser in Libyen ganz bewusst ins Visier genommen werden, berichtete Ende 2019 auch der UN-Sondergesandte Ghassam Salamé dem Sicherheitsrat. Er sprach von 60 Attacken auf medizinische Einrichtungen im Raum Tripolis und "einem klaren Muster präziser Luftschläge".

Angst ist nicht nur nahe der Front, sondern auch in weiten Teilen der Hauptstadt das vorherrschende Gefühl dieser Tage. "Die Menschen haben ihre Dokumente vorbereitet und ihre wichtigsten Besitztümer in Taschen gepackt", sagt ein anderer Bewohner der SZ. Auch er will seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht gedruckt sehen. "Mehr als 200 000 Menschen sind durch die Kämpfe aus ihren Häusern vertrieben worden" - in einer Stadt, die wegen der vielen Binnenflüchtlinge fast 2,5 Millionen Einwohner zählt. Das ist fast die Hälfte der Bevölkerung in Libyen.

An Leid haben sich die Libyer seit 2011 gewöhnen müssen. Bis zu 15 000 Menschen starben nach Einschätzung des UN-Menschenrechtsrats damals infolge der Kämpfe zwischen Aufständischen und Truppen des Diktators Muammar al-Gaddafi. Seit Libyen 2014 in einen Bürgerkrieg abglitt, haben Hunderttausende ihre Häuser verlassen, das UN-Flüchtlingshilfswerk zählt neben 650 000 Migranten aus anderen Staaten auch 350 000 Libyer, die im Land auf der Flucht sind. Seit Haftar im April 2019 seine Offensive begann, starben zudem mehr als 280 Zivilisten.

Seit am Sonntag die von Russland und der Türkei vermittelte Waffenruhe in Kraft trat, ist es abgesehen von einzelnen Scharmützeln ruhig. Der Flughafen Mitiga, direkt an der Mittelmeerküste gelegen und häufiges Ziel von Angriffen, ist derzeit wieder geöffnet. Und auch die Schulen haben den Unterricht wieder aufgenommen.

Es ist eine Atempause für die Bevölkerung. Im eigentlich reichen Libyen, in dem Elektrizität einst kostenlos war, "haben wir nun neun bis zehn Stunden am Tag keinen Strom", sagt der Mann aus Tripolis, der unter anderem für Nichtregierungsorganisationen arbeitet. Die Schlangen an den Tankstellen "sind kilometerlang", sagt er - in einem Land, das Öl produziert und exportiert. Für Bargeld müsse man Stunden am Automaten anstehen.

Und obwohl die Waffen gerade schweigen, bleibt die Atmosphäre in Tripolis angespannt, die Menschen eingeschüchtert. Die Milizen patrouillieren in der Stadt mit Pick-ups, Maschinengewehre sind auf die Ladeflächen montiert. "Es gibt keine Sicherheit, keine Staatsgewalt, keine Befehlskette", sagt der Mann. Menschen verschwänden spurlos, würden verhaftet oder gleich getötet. Wer Sympathie für Haftar oder dessen Libysche Nationalarmee erkennen lasse, riskiere sein Leben. In der Öffentlichkeit sagten die Leute nur: "Du kennst meine Meinung" - wenn man sie frage, wie sie über die Situation dächten.

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Dass Milizionäre mehrmals in sein Krankenhaus kamen, um sich aus den ohnehin nur spärlich gefüllten Medizinschränken zu bedienen, würde Haitham Nasser außerhalb des geschützten Innenraums seines Autos kaum erzählen. Die ständigen Stromausfälle versuchten sie im Krankenhaus mit Notstromaggregaten aufzufangen, "doch wenn die Preise weiter so steigen, müssen wir bei Kerzenlicht operieren".

Auch privat mache ihm die Inflation zu schaffen, sagt Nasser. Dass sie laut Weltwährungsfonds derzeit bei nur neun Prozent liegen soll, kann er kaum glauben. "Auf Gehalt warte ich seit Sommer."

Er verfluche den Tag, sagt Nasser zum Abschied, an dem er mit seinem frischen Medizindiplom zurück nach Libyen kam. "Zwei Wochen nach dem Tod Gaddafis war das. Ich dachte, wir bauen hier Großes auf." Heute sehnt er sich nach dem Leben in London, wo er studiert hat. Dennoch will er bleiben. "Fast die Hälfte meiner Kollegen ist schon weg. Wenn ich auch noch gehe, operieren wir hier bald nicht mal mehr bei Kerzenlicht."

© SZ vom 18.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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