Ein guter Thüringer Kloß besteht zu zwei Dritteln aus rohen, zu einem Drittel aus zerkochten Kartoffeln. Er heißt je nach Region etwa Hütes oder Knölla, die Einheimischen verzehren ihn gern mit brauner Soße. Wer Spezialwissen rund um das kulinarische Kulturgut erlangen will, dem sei ein Besuch in der Kloßmanufaktur im Örtchen Heichelheim empfohlen. Knapp zehn Kilometer von Weimar entfernt bieten sich dem Gast diverse Kuriositäten, unter anderem eine Apparatur zur Ermittlung der Soßen-Saugkraft und ein gigantischer begehbarer Kartoffelkloß.
Am Donnerstagabend diente die "Kloßwelt" der Thüringer CDU als Kulisse. Bei Freibier und dampfenden Tellern läutete Spitzenkandidat Mike Mohring die letzten 70 Stunden des Wahlkampfes ein: "Wenn ihr morgen wieder zu euch kommt, denkt daran, eure Freunde und Nachbarn daran zu erinnern, dass sie am Sonntag CDU wählen." Das Land brauche eine "stabile Regierung der bürgerlichen Mitte", rief Mohring in den Saal. "Es steht Spitz auf Knopf!"
Anders als die Zusammensetzung des Thüringer Kloßes ist die des künftigen Thüringer Parlaments keinesfalls gewiss. Glaubt man den aktuellen Umfragen, dann steht dem kleinen Land in der Mitte Deutschlands eine überaus schwierige Regierungsbildung bevor. Auf Marktplätzen und in Fußgängerzonen fallen Worte wie "Sackgasse", "Patt" und "unregierbar". Während in Sachsen und Brandenburg erstaunlich geräuschlos an Kenia-Bündnissen getüftelt wird, ist in Thüringen alles so offen, dass in komplexen Szenarien gedacht werden muss, oft begleitet von dem Satz: Das gab's noch nie.
Die Variante, die einen vergleichsweise entspannten Wahlabend nach sich zöge, wäre eine Fortführung des rot-rot-grünen Bündnisses. Sollte die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, dann würden Bodo Ramelows Koalition wie vor fünf Jahren wohl schon 46 Prozent der Zweitstimmen für die Mehrheit im Landtag genügen.
Schafft die FDP den Einzug ins Parlament, dürfte es hingegen eng werden für Deutschlands ersten und einzigen linken Ministerpräsidenten. Kontrahent Mike Mohring hat im Wahlkampf mehrfach seinen Entschluss bekräftigt, notfalls ein Viererbündnis mit SPD, Grünen und FDP einzugehen, wenn es rechnerisch reicht. Diese Woche ist die CDU vorgeprescht und hat ein Arbeitsprogramm für die ersten 100 Tage vorgestellt. Titel: "Neue Gemeinsamkeiten". Schwarz-Rot-Grün-Gelb wäre Deutschlands erste Simbabwe-Koalition - und Mohring wohl Thüringens neuer Ministerpräsident.
Das dritte Szenario ist das komplizierteste - und Umfragen zufolge wahrscheinlich: Es gibt keine Mehrheit jenseits der AfD oder eines Bündnisses von CDU und Linken, das beide Parteien klar ablehnen. In diesem Fall bliebe Bodo Ramelow so lange Ministerpräsident, bis sich eine Minderheitsregierung gefunden hätte. Anders als in Sachsen und Brandenburg gibt es in Thüringen keine Frist für die Regierungsbildung.
Es war Mike Mohring, der sich ursprünglich für die Idee eingesetzt hatte, Sachsen, Brandenburg und Thüringen am selben Tag wählen zu lassen, auch um den drei ostdeutschen Bundesländern maximale Aufmerksamkeit zu bescheren. Aber die Landesregierung hielt es für klüger, die Bürger mit etwas Abstand an die Wahlurnen zu bitten. Von einer "Schicksalswahl", wie sie vor dem 1. September für Sachsen beschworen wurde, war in Thüringen trotz der geschilderten Probleme dann auch kaum die Rede. Was daran liegen mag, dass es nach fünf Jahren Rot-Rot-Grün keine Wechselstimmung gibt. Ramelow ist der beliebteste Politiker des Landes. Entsprechend schlicht waren die visuellen Botschaften der Linken im Wahlkampf. Auf einem der Großplakate der Partei stand einfach: "Bodo Ramelow".
Die CDU hingegen setzte im Wahlkampf alles auf Attacke; eine Kampagne trug den Titel "Schluss damit!". Schluss mit Unterrichtsausfall, Schluss mit Angriffen auf Polizisten, Schluss mit "Windrad-Wahnsinn". Selbst unter Christdemokraten fand diese Tonart nicht überall Anklang. Zu wenig konstruktiv, zu sehr Sound der AfD, hieß es. Mal ganz davon abgesehen, dass es erst fünf Jahre her ist, dass die CDU in Thüringen regiert hat.
Mohrings Wahlkampf zeigte einige Parallelen zu dem der sächsischen CDU. Das Team um Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer trug seinerzeit Kapuzenpullover, das Team "MM" verteilte seine Flyer in Collegejacken. Der Sportreporter Waldemar Hartmann pichelte sich zunächst für die Sachsen-Union durch den Freistaat, nun tat er dies auch an der Seite des Thüringer Spitzenkandidaten. Und dann ist da noch der Wahlkampfanhänger mit dem Chemnitzer Kennzeichen (C-DU 2019). Die Thüringer haben ihn von den Sachsen geerbt und Kretschmers Konterfei kurzerhand mit dem von Mohring überklebt. Es gibt nur ein Problem. Anders als Kretschmer ist Mohring nicht Ministerpräsident, profitiert nicht vom Bonus des Amtsinhabers. Im Gegenteil. Dass auch in Thüringen ein starkes Ergebnis der AfD zu erwarten ist, dürfte Ramelow Wähler zutreiben. Leidtragender solcher Zweikämpfe sind in der Regel die Parteien dazwischen. Mohring buhlt um eine schwindende Mitte.
Für Anja Siegesmund und Dirk Adams, das Spitzenduo der Grünen, hat der CDU-Chef nur warme Worte übrig, man kenne und schätze sich sehr. Noch wehren sich die Grünen gegen diese verbalen Umarmungen. "Es gibt nur Plan A, und der heißt Rot-Rot-Grün", sagt Siegesmund, Umweltministerin im Kabinett Ramelow. Ihre Partei steht Umfragen zufolge bei sieben bis acht Prozent, deutlich weniger als im bundesweiten Schnitt. Dabei hat ihr Ministerium viel erreicht, das erste Klimagesetz für die ostdeutschen Länder auf den Weg gebracht zum Beispiel . Aber der Bundestrend schlägt - wie so oft im Osten - in Thüringen nicht durch. Für viele Menschen, sagt Siegesmund, sei die Klimakrise noch immer ein eher virtuelles Thema. Zu DDR-Zeiten sei es um die Natur eben vielerorts noch schlimmer bestellt gewesen. Jetzt, da die Flüsse nicht mehr in allen Farben schillern, lässt sich das Problem besser verdrängen.
Und die Sozialdemokraten? Die sind in Thüringen schon länger auf die Rolle der Mehrheitsbeschaffer reduziert. Das schwarz-weiße Wahlplakat des Spitzenkandidaten und Wirtschaftsministers Wolfgang Tiefensee erinnert an eine Traueranzeige, und so falsch ist das nicht. Ganz gleich, ob die Löhne steigen und die Arbeitslosigkeit sinkt, ganz gleich, ob am Erfurter Kreuz eine der größten Batteriezellenfabriken Europas entsteht - die Partei findet trotz dieser Erfolge nicht aus dem Umfragetief. In einem der SPD-Wahlspots rudert Tiefensee im Mantel über einen See. Im Hintergrund erklingt Bachs Cello Suite Nr. 1. Der Kandidat sagt Sätze wie: "Im Dorf gibt es keinen Arzt, kein Bus fährt in die nächste Stadt, unsere Schulen leben in der Kreidezeit." Ist das klug nach insgesamt zehn Jahren Regierungsbeteiligung?
Die rot-rot-grüne Mehrheit in Thüringen war schon immer fragil, sie hing über weite Strecken an nur einer Stimme. Im April 2016 war der AfD-Abgeordnete Oskar Helmerich nach Streit mit Parteichef Björn Höcke zu den Sozialdemokraten übergelaufen, ein Jahr später aber wechselte die SPD-Abgeordnete Marion Rosin ins Lager der Christdemokraten. Es waren die Momente, in denen das Thüringer Regierungsmodell bundesweit Aufmerksamkeit erregte; ansonsten blieb es vergleichsweise ruhig, wenn man bedenkt, dass kurz vor Ramelows Wahl zum Ministerpräsidenten besorgte Menschen mit Kerzen auf den Erfurter Domstufen standen, um vor der kommunistischen Machtergreifung zu warnen.
Die Liberalen müssen zittern
Für die Linke ist das Modell Ramelow eine Erfolgsgeschichte. Durch seinen Pragmatismus hat er das Image der Partei nachhaltig verändert, aus einer Protestpartei eine Alltagspartei geformt. Auch deshalb ließen sich im Thüringer Wahlkampf Wortmeldungen beobachten, die vor Kurzem noch als Sündenfall gegolten hätten. Da war zunächst Kurt Biedenkopf (CDU), zwölf Jahre lang Ministerpräsident im damals noch tiefschwarzen Sachsen, der sich im Focus mit der Feststellung zitieren ließ, "dass die Linken inzwischen keinesfalls mehr mit den Linken von vor ein paar Jahren zu vergleichen sind". Und dann verteilte auch noch der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck nachsichtiges Lob an Ramelow. Der habe gezeigt, "dass er mit einem linken Profil dieser Gesellschaft nicht schadet". CDU-Mann Mohring kommentierte diese Äußerungen mit der angemessenen Verschnupftheit. Es könne jetzt auch mal Schluss sein mit derartiger Wahlkampfunterstützung, sagt er.
Auch wenn es schon vorgekommen sein soll, dass beide Männer gemeinsam wandern gehen, eine Zusammenarbeit mit Ramelows Linken hat Mohring ausgeschlossen, Gleiches gilt für die AfD. Nichtsdestotrotz kann der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke mit einem guten Ergebnis rechnen, er muss nur fürchten, schlechter als seine Parteikollegen in Sachsen und Brandenburg abzuschneiden. Dann könnte sein Stern in der Partei sinken.
Bleibt noch die FDP. Die Liberalen sind, obwohl sie um den Einzug in den Landtag zittern müssen, wieder wichtig. Spitzenkandidat Thomas Kemmerich tritt selbstbewusst auf, sein Markenzeichen sind Glatze und Cowboystiefel. "Wir wissen um das taktische Moment dieser Wahl", sagt Kemmerich. Der Unternehmer ist in Aachen geboren, kam 1989 nach Erfurt, seit 2017 sitzt er im Bundestag. Für die FDP sei sowohl das von Mohring angestrebte Viererbündnis als auch eine Minderheitsregierung vorstellbar. Man habe da "keine Schere im Kopf". Auch die Liberalen haben Plakate aufgestellt. Darauf steht: "Das Zünglein an der Waage".