Kinder:Missbrauch: SPD bemängelt Versagen bei Polizei und Ämtern

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Obmann Andreas Bialas sitzt bei einer Pressekonferenz der SPD-Fraktion im Landtag. (Foto: Ann-Marie Utz/dpa)

Vier Jahre nach ersten Hinweisen auf den Missbrauchskomplex Lügde liegt aus Sicht der SPD bei der zügigen Aufdeckung sexualisierter Gewalt an Kindern noch vieles im Argen. Der SPD-Experte im Untersuchungsausschuss vermisst „das große Besteck“ gegen Täter.

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Düsseldorf (dpa/lnw) - Bei der Verfolgung von Kindesmissbrauch sowie der Unterstützung und Befreiung der Opfer sieht die SPD-Opposition in Nordrhein-Westfalen noch gravierenden Korrekturbedarf. Dies betreffe sowohl die Arbeit der Polizei und Justiz als auch der Jugendämter, sagte der SPD-Experte im Untersuchungsausschuss des Landtags, Andreas Bialas, am Donnerstag in Düsseldorf.

Zwar habe es nach Aufdeckung des Missbrauchskomplexes Lügde Fortschritte bei der Strafverfolgung gegeben sowie höhere gesellschaftliche Wachsamkeit gegenüber sexualisierter Gewalt an Kindern, bilanzierte der Polizist und studierte Diplom-Pädagoge. Der Untersuchungsausschuss habe aber bislang schon eindeutig ergeben, dass das Aufrüsten der Ermittlungsmöglichkeiten im digitalen Raum nicht ausreiche, um das Leid der Opfer zu lindern. Handlungsbedarf gebe es auch in der alltäglichen Polizeiarbeit und der Fach-Aufsicht. Selbst die spezielle Ermittlungskommission zur Aufklärung des Missbrauchskomplexes Lügde („BAO Eichwald“) habe „an ganz vielen Stellen versagt“.

Vernehmungen im Untersuchungsausschuss hätten unter anderem zutage gefördert, dass Ermittlungsverfahren zu Tatverdächtigen und Tätern, die Beihilfe geleistet haben könnten, verschleppt worden seien. So habe es in der Nachbarschaft des verurteilten Haupttäters auf dem Campingplatz Lügde, der unter anderem seine kleine Pflegetochter jahrelang schwer missbraucht hatte, einen „Familien-Sex-Clan“ mit zahlreichen missbrauchten Kindern und Enkeln gegeben, berichtete Bialas. Es habe mindestens 16 Opfer gegeben, erklärte der Politiker anhand einer Schau-Tafel. „Kein Kind ist davon gekommen.“

Obwohl es höchst unwahrscheinlich sei, dass über Jahre niemand etwas von den Verbrechen bemerkt habe, sei hier nicht umfassend und nicht schnell genug mit dem „großen Besteck“ nachgebohrt worden, kritisierte Bialas. Dabei habe es Hinweise gegeben, dass Männer in diesem Missbrauchsgeflecht sich möglicherweise gezielt unter anderem kinderreiche Partnerinnen ausgesucht hätten, um leicht an Opfer zu kommen.

Wie der Untersuchungsausschuss schon mehrfach offenbart habe, seien Alarmsignale von Kindern allzu häufig nicht ernst genommen worden. Bialas nannte als Beispiel die Zeugenvernehmung einer Tochter dieses Familien-Clans, die Fragen, ob denn was passiert sei, zunächst verneint habe. Auf ihren Einwurf: „Möchtest du wissen, was Papa gemacht hat?“, sei in der Vernehmung dann aber nicht mehr eingegangen worden. Die Zeugenvernehmungen werden an diesem Freitag fortgesetzt. Die SPD fordert, dass auch die Justiz sich Gedanken macht über weniger belastende und möglichst nicht retraumatisierende Kindervernehmungen.

Auf einem Campingplatz bei Lügde im Kreis Lippe an der Landesgrenze zu Niedersachsen waren über Jahre bis Ende 2018 zahlreiche Kinder von mehreren Männern sexuell missbraucht und vergewaltigt worden. Die beiden Haupttäter waren 2019 vom Landgericht Detmold zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Der NRW-Landtag hatte 2019 einen Untersuchungsausschuss eingesetzt und in dieser Wahlperiode neu aufgelegt, um die Rolle der Jugendämter in der Region und die Arbeit der Polizei zu beleuchten.

Noch immer habe das Land „beim Kinderschutz keinen Durchgriff“, kritisierte Bialas. Eine beinahe 400 Seiten umfassende Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage der SPD habe offenbart: „Jedes Jugendamt interpretiert seine gesetzlichen Aufgaben selbst, es gibt keine einheitlichen Vorgehensweisen, Strategien oder Standards.“ Die SPD fordert eine übergreifende Fachaufsicht für die Jugendämter.

Die Landesregierung wisse auch nicht, ob und wie die Vorgaben des 2022 verabschiedeten Kinderschutzgesetzes umgesetzt würden und welche Wirkung sie entfalteten, bemängelte Bialas. Das Gesetz sollte vor allem das Vorgehen der Jugendämter bei Kindeswohlgefährdungen klären und Kinderschutz-Netzwerke etablieren. Lediglich 43 Jugendämter gaben an, solche Netzwerke zu haben, wie aus der Antwort hervorgeht. 44 verneinten das, 40 Jugendämter gaben Planungen an. „Von 98 Jugendämtern wissen wir gar nichts in der Sache“, bemängelte Bialas.

© dpa-infocom, dpa:230427-99-471424/3

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