Nordrhein-Westfalen:Angst vor der rheinischen Courage

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Reviervertrag 2.0: In Mönchengladbach unterzeichneten ihn am Dienstag 61 Regionalpolitiker aus Nordrhein-Westfalen. Mit dabei CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst (5. v. re.). (Foto: FRM/DPA)

Alle machen sich Mut - der Ministerpräsident aus Düsseldorf, der Wirtschaftsminister aus Berlin: Der Kohleausstieg 2030 im rheinischen Revier sei Modell für Europa und die Welt. Ob's gelingt, weiß niemand.

Von Christian Wernicke, Mönchengladbach

Aus Düsseldorf ist Ministerpräsident Hendrik Wüst angereist, aus Berlin wird sich gleich Wirtschaftsminister Robert Habeck zuschalten. 96 Ehrengäste zählt ein Festredner zur Begrüßung; der Mann ist klug genug, die Namensliste der VIPs dann nicht abzulesen. "Gleich geht's los", prangt auf dem Großbildschirm im luftigen Hangar des Flughafens von Mönchengladbach - also aufwärts, der Zukunft entgegen? Genau diesen Glauben will diese gediegene Versammlung rheinischer Würdenträger am Dienstag nach Pfingsten schüren. Hundert Minuten später werden Minister und Abgeordnete mit Gewerkschafterinnen und Unternehmern, Landräten wie Bürgermeisterinnen gemeinsam auf der Bühne stehen, um zwanghaft lächelnd ein altgelbes Tuch hochzuhalten: "Wenn gut zu jut wird."

Sie alle, immerhin 61 Regionalpolitiker, haben am Dienstag ihren "Reviervertrag 2.0" unterzeichnet. Ohne Champagner zwar, aber bemüht feierlich und im Namen von 2,5 Millionen Menschen: Nach den Regeln dieses Vertrages wird sehr viel Geld aus Berlin verteilt (immerhin 14 800 Millionen Euro); das 40 Seiten lange Dokument verheißt dem Rheinischen Braunkohlerevier zwischen Aachen, Köln und Düsseldorf einen Neuanfang. Und zwar schneller denn je - den endgültigen Ausstieg aus aller Kohle hat das Energieland NRW ja um acht Jahre vorgezogen. Auf 2030.

Ein Jahrhundertprojekt. Aber keine 100 Jahre Zeit dafür

Macht noch 79 Monate bis zum Anbruch der neuen, kohlefreien Zeit. Jeder Redner an diesem Morgen beschreibt die Region als Vorbild - mal für Europa, mal für die ganze Welt. Der vorgezogene Kohleaustieg im Rheinland, so sagt es etwa Tim Grüttemeier, der Chef der Städteregion Aachen, sei "der bundesweit größte Einzelbeitrag gegen den Klimawandel". Soll heißen: kein Zurück mehr.

Nur, gelingt der Sprung ins post-fossile Revier? Landrat Grüttemeier nennt den Strukturwandel in der Region "ein Jahrhundertprojekt - aber eines, für das wir keine 100 Jahre Zeit haben". So mancher im Hangar nickt da, viele plagt inzwischen die Angst vor der rheinischen Courage. Und Vertreter der Industrie- und Handelskammer Köln boykottierten den Festakt gleich ganz. Sie protestierten gegen eine Formulierung in der Präambel des Reviervertrages, dass die Region den vorgezogenen Kohleausstieg "ausdrücklich" unterstütze. Die Kölner Kammer fürchtet, im Revier könne 2030 das Licht ausgehen - weil Windräder oder neue, wasserstoff-geeignete Kraftwerke niemals rechtzeitig fertig würden.

"Die Versorgungssicherheit steht über allem."

Tatsächlich haben alle Redner am Dienstag sich selbst Beine gemacht. NRW-Regierungschef Wüst pries zwar die "Blaupause" des Rheinischen Reviers und den Ausstieg 2030. Aber der Christdemokrat warnte auch: "Wenn wir mit der bisherigen Geschwindigkeit weitermachen, dann werden wir unser Ziel nicht erreichen." Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) blies ins selbe Horn - und malte rein präventiv aus, was das bedeuten würde: Dann sei es leider "die logische Konsequenz, dass alte Kraftwerke länger stehen bleiben". Im Klartext: Man werde mehr und länger Kohle verbrennen müssen als geplant, denn: "Die Versorgungssicherheit steht über allem."

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Die Zeit drängt also. Bisher haben die Landesregierung NRW und ihre "Zukunftsagentur" erst 1,37 Milliarden Euro für 139 Projekte bewilligt. Nicht mal ein Zehntel der verfügbaren Fördermittel also. Ein Großteil der Anträge wird jetzt in Düsseldorf erst einmal neu geprüft - weil ja alles schneller gehen soll. Schon gären Zweifel, ob alle Projekte Jobs und Zukunft schaffen: 70 Millionen Euro vergab das Land für einen Wildwasserpark, ein Hockeystadion und eine Reitsporthalle. Das, so Hendrik Wüst, sei so "beschlossen". Basta.

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