Nicht, dass sie es nicht wüssten. Nicht, dass sie es nicht erwähnt hätten. CDU, CSU und SPD - alle drei Parteien spüren längst, dass in diesem Land etwas gar nicht mehr rund läuft. Alle wissen, dass die Spannungen wachsen und der Zusammenhalt schwindet. Wirtschaftlich, sozial, politisch - an vielen Ecken des Landes steht plötzlich viel auf dem Spiel. Und doch erwecken Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz auch nach Wochen der Verhandlungen nicht den Eindruck, als ob sie auf die großen Fragen umfassende Antworten hätten.
Als die drei vor Kurzem die Ergebnisse ihrer Sondierungen vorstellten, fielen zwar Begriffe wie Spannung und Zusammenhalt. Aber inzwischen werden sie längst überlagert von gefühlt tausend anderen Fragen. Als ob die sachgrundlose Befristung oder auch der Familiennachzug für Flüchtlinge das Wichtigste wären. Beide Themen sind relevant; über beide sollte gesprochen werden. Aber dass sie zentral sind für die Zukunft dieses Landes, ist Unsinn.
Entscheidend wird sein, ob es Union und SPD bis Sonntag gelingt, sich eine gemeinsame, zentrale, überzeugende Überschrift zu geben. Nicht aus PR-Zwecken, sondern um die Bildung einer neuen großen Koalition vor den Wählern zu begründen. Mit Spiegelstrichen und Details beim Arbeitsrecht oder in der Gesundheitsversorgung lässt sich die Fortsetzung nicht rechtfertigen. Dafür braucht es das große Versprechen, dieses Land endlich angemessen zu modernisieren. Es also mit guten Schulen und einer umfassenden Bildung im Digitalen auszustatten.
Nach gut einer Woche Sondierungsgesprächen, nach einem stürmischen SPD-Parteitag und einer Woche mühsamster Koalitionsverhandlungen ist davon kaum etwas zu erkennen. Und das ist nicht mehr nur ein Lapsus. Es führt zu der Frage, ob die drei noch die Richtigen sind, um das Land zu regieren. Können sie einer neuen Koalition noch eine echte Idee geben? Spüren sie, wie notwendig eine Überschrift wäre, um zu überzeugen? Haben sie verstanden, dass in Zeiten von AfD und Trump Verantwortung mehr ist als ein paar Kompromisse auszuhandeln?
Union und SPD agieren zögerlich, zankend und zermürbend
Es reicht nicht mehr, nach einer letzten Nachtsitzung Hurra zu rufen. Es genügt nicht, dass sich Union und SPD bei allen Streitthemen irgendwo in der Mitte treffen. Der kleinste gemeinsame Nenner bringt nichts, solange eine überwölbende Idee ausbleibt; der kleinste gemeinsame Nenner führt eine große Koalition in die Verzwergung.
Bis jetzt ist es Union und SPD nicht gelungen, den Trend umzukehren. Nicht in der Sache und nicht rhetorisch. Stattdessen wächst von Tag zu Tag der Eindruck, alle würden einfach immer so weitermachen wie bisher. Zögerlich, zankend, zermürbend und vor allem uninspirierend. Wer sich ansieht, wie laut und entschlossen alle drei Parteien nach der Bundestagswahl ankündigten, man habe verstanden und werde nicht mehr so weitermachen wie bisher, kann dieser Tage nur staunen, wie schnell sich dieses Gelöbnis auflöst.
Dass es so weit kommen konnte, ist ärgerlich. Dass die großen Themen, die eine Koalition angehen müsste, quasi vor ihr auf der Straße liegen, macht die Sache noch schlimmer. Die Integration der Flüchtlinge - sie ist mitnichten abgeschlossen. Sie ist noch nicht einmal gut und angemessen begonnen worden. Also hängt für das Land sehr viel daran, ob die nächste Regierung endlich adäquat auf diese Großaufgabe antwortet.
Merkel, Seehofer und Schulz müssten hier Schwerpunkte setzen: mit sehr viel Geld für Lehrer und Schulen, mit deutlich mehr Personal für Fortbildung und Betreuung, mit mehr Polizisten und mehr Präsenz in gefährdeten Regionen, um klarzumachen, dass man die Sorge vor Kriminalität und die Sorge vor rechter Gewalt ernst nimmt.