Kinderbetreuung:Wenn ein System an seine Grenzen stößt

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Der nationale Notstand im Kleinen: Nur drei von 43 städtischen Kitas in Tübingen haben so viel Personal, wie sie bräuchten (Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa)

Weil Fachkräfte fehlen, plant die Stadt Tübingen, viele Kindertagesstätten nicht mehr bis abends zu öffnen. Nun herrscht Aufruhr unter den Eltern. Die Stadt sieht keinen Anlass zu Sorge.

Von Max Ferstl, Tübingen

Maja von Schwartzenberg hat Töpfe mitgebracht, Deckel und Löffel. Sehr nützlich, wenn man Krach machen will. Sie steht im Nieselregen auf dem Marktplatz in Tübingen, den Kochlöffel im Anschlag. Um sie herum: die versammelte Wut. Kinder in Warnwesten, Mütter mit selbstgebastelten Schildern, auf einem steht: "Wir wollen nicht in die 60er-Jahre zurück!!!"

Maja von Schwartzenberg lächelt, weil an diesem Donnerstagabend mehr als 500 Menschen zur Demonstration gekommen sind. Aber eigentlich findet sie die Angelegenheit nicht lustig. Die Stadt Tübingen plant, die Betreuungszeiten in den städtischen Kitas zu kürzen, vor allem am Nachmittag soll es deutlich weniger Gruppen geben. Maja von Schwartzenberg, braune Haare, blaue Mütze, hält das für eine "sehr schlechte" Idee: "Wie stellen die sich das eigentlich vor?" Sie hebt den Löffel wie ein Schwert, dann schlägt sie auf den Topfdeckel. Klonk.

Der bewunderte "Tübinger Weg" - diesmal ein Irrweg?

In Tübingen sind sie es gewohnt, für große Probleme clevere Lösungen zu finden. Während der Pandemie, als das Land im Lockdown verharrte, saßen die Tübinger dank eines Schnelltestsystems schon wieder im Café. Und als alle noch über die Energiewende redeten, hatte Tübingen längst eine Solardachpflicht eingeführt. Oft ist vom "Tübinger Weg" die Rede, wenn diese kleine Stadt den Großen mal wieder zeigt, wie's geht.

Doch gerade fehlen in Tübingen genauso Erzieherinnen und Erzieher, wie sie überall fehlen. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung bräuchte es deutschlandweit knapp 100 000 Kräfte zusätzlich. In Tübingen fehlen in der Kinderbetreuung gut 80 Personen. Von 43 städtischen Kitas haben nur drei so viel Personal wie geplant. Ein großes Problem, klar. Aber der Plan der Stadtverwaltung klingt für die Eltern diesmal nicht nach einer cleveren Lösung, für die sie bundesweit beneidet werden, sondern nach einer Drohung.

Anfang 2020, als die Lage in den Kitas noch einigermaßen in Ordnung war, gab es in Tübingen 150 Gruppen. Zum Start des neuen Betreuungsjahres im September sollen es nur noch 138 Gruppen sein. Nur noch vier Gruppen werden Kinder bis 17.30 Uhr betreuen, vor drei Jahren waren es noch 19. Die Hauptbetreuungszeiten verschieben sich auf den Mittag, der Nachmittag wird ausgedünnt. Damit will die Stadt den Erziehermangel abfedern. Wenn man so will, zeigt sich in Tübingen gerade im Kleinen, was passiert, wenn ein System an seine Grenzen stößt.

Nur noch vier von 19 Gruppen öffnen bis abends - "sozial unausgewogen", sagt der Elternbeirat

Seitdem das Vorhaben öffentlich bekannt geworden ist, herrscht Aufruhr unter den Eltern. Der Gesamtelternbeirat der Tübinger Kinderbetreuungseinrichtungen hält die Pläne für "unausgereift, sozial unausgewogen und einseitig die Familien belastend". Die Vorsitzende Maria Tiede sagt, wenn die meisten Kitas um 13.15 Uhr schließen, könnten viele Mütter nicht mal 50 Prozent arbeiten.

Maja von Schwartzenberg hat vier Kinder, einen arbeitenden Mann und studiert selbst Lehramt: "Wir sind auf die Kitas angewiesen." (Foto: Max Ferstl)

Auf dem Marktplatz zieht sich Maja von Schwartzenberg die Mütze tiefer ins Gesicht, dann erklärt sie, warum ihr Leben ohne Kita nicht funktioniert. Sie studiert Lehramt in Ludwigsburg, 60 Kilometer entfernt, ihr Mann arbeitet als Oberarzt am Universitätsklinikum. Das Paar hat vier Kinder, zwei davon besuchen eine städtische Kita. Wenn die Kinder nicht mehr zuverlässig am Nachmittag betreut würden - und so klingen die Pläne der Stadt für sie - , dann könnte Maja von Schwartzenberg nicht mehr studieren. "Wir sind auf die Kitas angewiesen."

Nur: Kommt es wirklich so schlimm?

Manfred Niewöhner glaubt das nicht. Er leitet den Fachbereich Bildung und Betreuung der Stadt. Am Telefon sagt er, dass er die Sorgen der Eltern verstehen könne. "Kitas sind ein emotionales Thema." Und eines, das sich leider verschärft. Als Niewöhner 2017 bei der Stadt anfing, betrug der Fehlstand bei den Erziehern zwei Prozent, heute sind es zehn Prozent. Deshalb haben seine Mitarbeiter und er nachgeschaut, wie viele Kinder 2019 in Tübingen in die städtischen Kitas gingen. Was sie sahen: Viele Gruppen seien am späten Nachmittag nicht ausgelastet gewesen. Bis 17.30 Uhr wurden über die Stadt verteilt insgesamt nur elf Kinder betreut. "Nicht effizient", sagt Niewöhner. Und da setze die neue Struktur an: Es soll weniger Gruppen geben, die dafür besser ausgelastet sind.

Die Stadt sagt, der Bedarf sei auch in Zukunft gedeckt

Wenn Niewöhners Berechnung stimmt, wird auch in Zukunft der Betreuungsbedarf gedeckt. Maja von Schwartzenbergs Studium zum Beispiel wäre dann nicht in Gefahr. Zur Wahrheit gehört aber auch: Für Eltern, die ihre Kinder auch am späten Nachmittag betreuen lassen wollen, könnte es schmerzhaft werden. Weniger Gruppen bedeuten, dass Eltern womöglich auf andere Einrichtungen ausweichen müssen. Und für die Erzieher bedeuten volle Gruppen mehr Arbeit.

Andererseits ist es nicht so, dass in Tübingens Kitas gerade alles ideal läuft. Maja von Schwartzenberg hat das gerade selbst erlebt. Eine Erzieherin war krank, zwei Mal schloss die Einrichtung schon um 12.30 Uhr - und die Eltern "müssen improvisieren". Natürlich weiß sie, dass Fachkräfte fehlen. Sie würde sich allerdings wünschen, dass die Stadt nicht einfach nur die Betreuung kürzt, sondern sich auf ihre berühmte Kreativität ("Wir sind doch hier in Tübingen!") besinnt. Dass sie "radikal Fachkräfte anwirbt", dass sie auf junge Menschen zugeht, die ein Freiwilliges Soziales Jahr leisten. Solche Dinge.

Erfüllend, aber immer am Limit: noch mehr Arbeit für Erzieherinnen

Einen kleinen Erfolg haben die Eltern immerhin für sich verbucht. Eigentlich wollte der Gemeinderat am Donnerstag, dem Tag der Demo, über den Kürzungsplan abstimmen. Die Abstimmung wurde dann aber verschoben. Es soll erst mal eine Podiumsdiskussion geben. Vielleicht beruhigt sich die Lage wieder.

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Ein letztes Mal zurück auf den Marktplatz. Etwas abseits steht eine Frau mit roten Haaren. Sie arbeitet in einer Kita, will aber nicht, dass ihr Name in der Zeitung steht - nicht dass die Eltern etwas Falsches denken. Die Erzieherin sagt, dass ihre Arbeit erfüllend sei, aber auch sehr anstrengend. Die Kinder anziehen, die Kinder ausziehen, Essen vorbereiten, Tisch abwischen - "unser ganzer Tag ist durchgetaktet".

Sie versteht die Sorgen der Eltern, aber Sorgen hätten auch die Erzieher. Weniger Gruppen, mehr Kinder, schaffen wir das alles? Sie sei schon jetzt jeden Abend erschöpft, sagt die Erzieherin, "immer am Limit". Dann verschwindet sie in der Dunkelheit.

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