Prozess:US-Gericht spricht Todesschützen von Kenosha frei

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Kyle Rittenhouse und sein Anwalt unmittelbar nach dem Freispruch im Gericht von Kenosha. (Foto: AP)

Kyle Rittenhouse erschoss vergangenes Jahr bei Protesten in Wisconsin zwei Demonstranten und verletzte einen weiteren. Die Jury befindet, der damals 17-Jährige habe sich mit seiner Waffe selbst verteidigt.

Von Christian Zaschke, New York

Es war einer der meistbeachteten Strafprozesse der jüngeren Zeit in den USA, und er endete am Freitag mit einem in dieser Eindeutigkeit überraschenden Urteil: Der 18 Jahre alte Kyle Rittenhouse, der im vergangenen Jahr bei Protesten in Kenosha im Bundesstaat Wisconsin mit einer halbautomatischen Schusswaffe zwei Menschen getötet und einen verletzt hatte, wurde in allen Anklagepunkten freigesprochen. Rittenhouse nahm das Urteil sichtlich emotional entgegen, er zitterte, seine Anwälte stützten ihn.

An vier Tagen hatte die Jury nach Abschluss der zwei Wochen dauernden Beweisaufnahme insgesamt 26 Stunden lang beraten. Dass eine Jury derart lange tagt, ist in den USA selten. Im Zentrum des Prozesses stand die Frage, ob Rittenhouse in jener Nacht des 25. August 2020 um sein Leben fürchtete und seine Waffe zur Selbstverteidigung abfeuerte.

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Die Frage, was als Selbstverteidigung angesehen werden kann, unterscheidet sich in den USA von Bundesstaat zu Bundesstaat. In Wisconsin ist es erlaubt, auch tödliche Gewalt anzuwenden, wenn man glaubt, sein Leben sei in Gefahr oder es drohe ernsthafter körperlicher Schaden durch Dritte. Zudem ist es in Wisconsin erlaubt, offen Schusswaffen zu tragen.

In Kenosha war es im vergangenen Jahr im August an mehreren Tagen zu Protesten gekommen, nachdem ein weißer Polizist auf den Afro-Amerikaner Jacob Blake geschossen hatte und diesen so schwer verletzte, dass er von der Hüfte abwärts gelähmt war. Die Stimmung im Land war ohnehin aufgeheizt, weil wenige Monate zuvor in Minneapolis ein anderer weißer Polizist den Afro-Amerikaner George Floyd getötet hatte, indem er mehr als neun Minuten lang auf dessen Hals kniete.

Bewaffnete Bürger schützten Geschäfte

Die Proteste in Kenosha verliefen zunächst friedlich, schlugen dann jedoch teilweise in Gewalt um. Geschäfte wurden geplündert und in Brand gesteckt. Die örtliche Polizei war überfordert, was dazu führte, dass sich mehr und mehr bewaffnete Bürger vor die Geschäfte stellten, um diese zu schützen.

Rittenhouse wohnt im benachbarten Illinois bei seiner Mutter, sein Vater lebt jedoch in Kenosha. Er beschloss, wie er vor Gericht sagte, beim Schutz der Stadt zu helfen und zudem Verletzte zu versorgen. Mit einer Erste-Hilfe-Ausrüstung und einem halbautomatischen Gewehr erreichte er die Innenstadt.

Die Lage war angespannt, die verschiedenen Gruppen lieferten sich Wortgefechte. Wie es zu den Schüssen kam, ist gut dokumentiert, weil es viele Handy-Aufnahmen gibt und vor allen Dingen Filmmaterial, das mit einer Drohne aufgenommen wurde. Die Aufnahmen der Drohne standen zunächst weder der Anklage noch der Verteidigung zur Verfügung, sie wurden erst am fünften Tag des Prozesses erstmals gezeigt.

Zu sehen ist unter anderem, dass ein Demonstrant den damals 17 Jahre alten Rittenhouse entwaffnen wollte. Dieser schoss viermal und tötete den Mann. Daraufhin wurde er von weiteren Demonstranten verfolgt. Rittenhouse stolperte und fiel auf der Flucht. Als ihn einer der Demonstranten erreichte, schoss er erneut und traf sein Opfer in die Brust. Auch dieser Schuss war tödlich.

Neue Diskussionen um Waffengesetze

Ein dritter Mann näherte sich mit einer Pistole, die er erst in die Luft und dann auf Rittenhouse richtete. Diesen Mann traf Rittenhouse am Arm. Als sich ein Polizeiwagen näherte, wollte er sich ergeben, doch die Polizisten ignorierten ihn und kümmerten sich zunächst um die Opfer.

Der Fall hat in den USA erneut eine Diskussion über den weit verbreiteten Waffenbesitz ausgelöst. Wie es sein könne, dass ein 17-Jähriger mit einer halbautomatischen Waffe durch die Stadt laufe, wurde gefragt. Die Rechtslage ist so, dass Rittenhouse die Waffe nicht selbst erwerben, sehr wohl aber besitzen durfte. Ein Freund hatte sie für ihn gekauft.

Es war wohl unvermeidlich, dass der Fall politisiert wurde. Für seine Unterstützer ist Rittenhouse ein mutiger junger Mann, der helfen wollte. Die Waffenlobby machte sich für ihn stark und sammelte Geld für seine Verteidigung. Ein republikanischer Abgeordneter aus Washington hatte gesagt, er erwäge, Rittenhouse ein Praktikum in seinem Kongressbüro anzubieten.

Für andere Kommentatoren ist Rittenhouse hingegen ein gefährlicher junger Mann, der das Gesetz in die eigene Hand genommen hatte. Wäre er ohne Waffe am Ort gewesen, argumentieren sie, wäre die Situation niemals in dieser Weise eskaliert. Insofern trage er die Schuld am Tod seiner beiden Opfer.

500 Soldaten in Bereitschaft

Vor dem Gericht hatten sich am Freitag einige Dutzend Demonstranten eingefunden, die ungefähr zu gleichen Teilen einen Freispruch und eine Verurteilung forderten. Tony Evers, der Gouverneur von Wisconsin, hatte sicherheitshalber 500 Soldaten der Nationalgarde in Bereitschaft versetzt, falls es zu Ausschreitungen kommen sollte. Es blieb jedoch zunächst ruhig.

Wie sehr der Fall die USA beschäftigt, zeigt sich auch daran, dass sich am späteren Freitag Präsident Joe Biden äußerte. "Während das Urteil in Kenosha viele Amerikaner verärgert und besorgt zurücklässt, mich eingeschlossen, müssen wir akzeptieren, dass die Jury gesprochen hat", sagte er, "ich rufe alle dazu auf, ihre Ansichten friedlich zu äußern, im Einklang mit dem Gesetz. Ich habe mit dem Gouverneur gesprochen und Unterstützung und jede Hilfe angeboten, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten."

Rittenhouse war in fünf Punkten angeklagt, unter anderem wegen Mordes, versuchten Mordes und öffentlicher Gefährdung. Mindestens im letzten Punkt war ein Schuldspruch erwartet worden. Die Jury erklärte ihn in allen fünf Punkten für nicht schuldig, was bedeutet, dass Kyle Rittenhouse das Gericht als freier Mann verließ.

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