Katholische Kirche:Mehr als 1000 Missbrauchsopfer in der Schweiz

Lesezeit: 3 min

Die Schweizer katholische Kirche im Zwielicht, der Churer Bischof Joseph Bonnemain (vorne) kündigt eine umfassende Aufklärung an. (Foto: Fabian Strauch/dpa)

Ein Team der Uni Zürich erforscht sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche des Landes - und deckt "grauenhafte Taten" auf. Die Forscherinnen sagen: Das war nur der Anfang.

Von Isabel Pfaff, Bern

Die 136 Seiten sind nur der Anfang, eine Art erster Überblick nach einem Jahr Forschungsarbeit. Nichtsdestotrotz ist das, was zwei Professorinnen und drei Historikerinnen und Historiker am Dienstag in Zürich vorstellen, erschütternd: 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs durch katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige können die Forscher für die Schweiz und den Zeitraum 1950 bis heute belegen.

Die fast 1000 Betroffenen, die das Forschungsteam identifiziert hat, waren zu 74 Prozent minderjährig, unter ihnen waren sogar Säuglinge. Die gut 500 Beschuldigten wiederum waren und sind fast ausschließlich männlich, der Anteil an geweihten Männern ist nach Aussage der Wissenschaftler "sehr, sehr hoch". Mehr als die Hälfte der Fälle ereignete sich laut der Studie im Rahmen der Gemeindearbeit, also in der Seelsorge, dem Ministrantendienst oder bei der Kinder- und Jugendarbeit.

Hohe Dunkelziffer, vernichtete Akten - vieles blieb im Verborgenen

Die übrigen Vorfälle spielten sich in katholischen Heimen, Schulen und in Ordensgemeinschaften ab. Die Kirche habe häufig mit Vertuschung auf Missbrauchsfälle reagiert, schreiben die Historiker. Die Täter wurden innerhalb der Schweiz oder sogar ins Ausland versetzt; das kirchliche Strafrecht wurde oft nicht angewendet.

Die Ergebnisse der Studie seien zweifellos nur die Spitze des Eisbergs, sagt Marietta Meier, Geschichtsprofessorin an der Uni Zürich und eine der beiden Leiterinnen des Projekts. Das habe einerseits mit dem begrenzten Zeitrahmen zu tun, aber auch mit vernichteten Akten und einer mutmaßlich sehr hohen Dunkelziffer. Man müsse davon ausgehen, dass nur ein kleiner Teil der Fälle überhaupt jemals gemeldet wurde, so Meier und Co-Leiterin Monika Dommann.

Die beiden Forscherinnen haben Erfahrung in der Bearbeitung heikler historischer Projekte. Marietta Meier hatte schon das Forschungsprojekt zu missbräuchlichen Medikamententests in der Psychiatrie in Münsterlingen am Bodensee geleitet, woran auch ihre Kollegin Dommann beteiligt gewesen war. Den Missbrauchskomplex haben sie nun im Auftrag der katholischen Kirche untersucht - zunächst ein Jahr lang. "Für uns war von Anfang an klar, dass zunächst nur ein Pilotprojekt infrage kam", erläutert Dommann, "unter anderem, um die konkrete Kooperationsbereitschaft der Kirche zu testen."

Schon im Vorfeld des Projekts hatten die Historikerinnen deutlich gemacht, dass sie sich nicht einspannen lassen würden für eine Feigenblattforschung, die nur auf dem Papier unabhängig ist. Sie wollten prüfen, inwieweit kirchliche Einrichtungen wirklich die Archive öffnen würden. "Von einigen Ausnahmen abgesehen", sagt Meier, sei das Forschungsteam auf keine größeren Hürden gestoßen.

Die Prüfer stoßen in der Vatikan-Vertretung auf verschlossene Türen

Weshalb es nun eine Fortsetzung geben wird. Von 2024 bis 2026 werden Historiker der Uni Zürich weiter zu Missbrauchsfällen im Umfeld der katholischen Kirche forschen. Die Auftraggeberinnen sind die gleichen wie zuvor: die Schweizer Bischofskonferenz, die Konferenz der römisch-katholischen Kantonalkirchen und die Konferenz der Ordensgemeinschaften.

"Es gibt noch viel zu tun", sagt Dommann und erwähnt in diesem Zusammenhang, wo sie und ihr Team bislang auf verschlossene Türen stießen: bei der apostolischen Nuntiatur, also der diplomatischen Vertretung des Vatikans in der Schweiz. Dort habe man ihnen den Zugang zum Archiv verweigert. "Trotz der wiederholten Beteuerung der Transparenz seitens Papst Franziskus und weiterer Verantwortlicher des Vatikans" sei es also weiterhin nicht möglich, die Vergangenheit wirklich unabhängig zu erforschen, heißt es im Forschungsbericht. "Aber wir bleiben dran", verspricht Dommann.

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Für die katholische Kirche in der Schweiz ist der Forschungsbericht ein Meilenstein. Es ist der erste, der das Thema Missbrauch landesweit und systematisch zu erfassen versucht. Damit sind die Schweizer im Vergleich zu den USA, Irland oder Deutschland spät dran, wie auch die Forscherinnen am Dienstag betonen: Die vorliegende Studie zeige, dass die Kirche diesen Prozess schon vor mindestens 20 Jahren hätte anstoßen müssen, kritisiert Dommann. Schließlich seien in der Zwischenzeit mit großer Wahrscheinlichkeit Akten vernichtet worden, auch lebten viele Betroffene nicht mehr.

Auf dem Podium am Dienstag sitzen auch Kirchenvertreter. Dies sei ein Tag, vor dem sich viele gefürchtet hätten, sagt Renata Asal-Steger, Präsidentin der Kantonalkirchen. Nun seien "grauenhafte Taten und unsägliche Mängel" ans Licht gekommen, und doch sei sie dankbar für diesen Tag. Auch der Churer Bischof Joseph Bonnemain, Hauptverantwortlicher der Schweizer Bischofskonferenz für den Missbrauchskomplex, äußert sich bestürzt und kündigt im Namen der katholischen Organisationen Maßnahmen der Aufarbeitung an: eine landesweite Meldestelle für Betroffene etwa, standardisierte psychologische Abklärungen für kirchliche Angestellte oder die Selbstverpflichtung, keine Missbrauchsakten mehr zu vernichten.

Vertreter von Betroffenen begrüßen diese Maßnahmen. Warum die Kirche auch damit bis jetzt gewartet hat, kann sie am Dienstag nicht überzeugend erklären.

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