Ukraine:Flutwelle erfasst Dörfer

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Ein Anwohner geht eine überflutete Straße in Cherson entlang. (Foto: Nina Lyashonok/AP)

Im Gebiet Cherson ist der Pegel des Flusses Dnjepr dramatisch gestiegen. Im Stausee waren rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser gespeichert - das entspricht dem neunfachen Volumen des Chiemsees.

Von Leopold Zaak

In der Oblast Cherson, im Süden der Ukraine, ist ein großer Staudamm am Fluss Dnjepr schwer beschädigt worden. Es gibt erhebliche Überschwemmungen. In sozialen Netzwerken werden Videos von Rettungsaktionen gezeigt. Helfer tragen Menschen, die nicht laufen können, auf Tüchern aus ihren überschwemmten Wohnungen. Viele sind von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Es gibt Stromausfälle. Über mögliche Tote und Verletzte war bis zum Nachmittag noch nichts bekannt. 80 Orte liegen im Überschwemmungsgebiet.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat den nationalen Sicherheitsrat für eine Notfallsitzung einberufen. In den sozialen Medien kursieren Videos und Fotos, die den zerstörten Staudamm zeigen.

In der von Russland besetzten Stadt Nowa Kachowka steigt das Wasser (Foto: IMAGO/Alexei Konovalov/IMAGO/ITAR-TASS)

Der Kachowka-Staudamm ist der größte und wichtigste am Fluss Dnjepr, dem viertlängsten Fluss Europas. Er ist 30 Meter hoch, 3,2 Kilometer lang, der dadurch gebildete Stausee fasste rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser - das ist etwa neunmal soviel Volumen wie der Chiemsee hat. Mit dem Wasser wird auch das Atomkraftwerk Saporischschja versorgt. Der Pegel des Stausees sinkt derzeit sehr schnell.

Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) sieht aber derzeit keine direkte Bedrohung für die Sicherheit des Kraftwerks. Auch die Atombehörde der Ukraine gibt Entwarnung: Die Kühlbecken des AKWs seien ausreichend gefüllt, der sinkende Pegel im Stausee wirke sich darauf nicht aus. Das Kraftwerk wird von russischen Truppen kontrolliert.

Völlig zerstört scheint das Wasserkraftwerk zu sein, das zu dem Staudamm gehört. Die von Russland eingesetzten Behörden melden, es sei offensichtlich, dass eine Reparatur nicht möglich sei. Die ukrainische Energiebehörde bestätigt das. In der Stadt Nowa Kachowka, die direkt an den Staudamm grenzt, haben die russischen Besatzer inzwischen den Notstand ausgerufen. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, "die Stadt ist überflutet", sagte der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew im russischen Staatsfernsehen.

Die Ukraine erkennt bei Russland ein Motiv für die Zerstörung

Mit dem Wasser aus dem Stausee wird auch die Schwarzmeer-Halbinsel Krim versorgt. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 riegelte die Ukraine den Kanal ab, der zum damaligen Zeitpunkt mehr als 80 Prozent des Wasserbedarfs abdeckte. Kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sprengten die russischen Truppen die Sperre, seither fließt wieder Wasser vom Kachowka-Stausee auf die Halbinsel. Wladimir Leontjew, Bürgermeister der Stadt Nowa Kachowka, die direkt am Staudamm liegt, räumte ein, dass es durch die Zerstörung zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der Krim kommen könnte.

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Unklar ist noch, wer für die Zerstörung des Damms verantwortlich ist. Beide Seiten geben sich gegenseitig die Schuld dafür. Die von Russland eingesetzte Verwaltung in der teilweise besetzten Oblast Cherson schreibt, es habe in der Nacht zum Dienstag Angriffe des ukrainischen Militärs auf den Staudamm gegeben, wobei dieser beschädigt worden sei. Der ukrainische Präsident Selenskij spricht derweil von russischem "Terror", sein Berater Andrij Jermak von einem "Ökozid", für den Russland verantwortlich sei. Der ukrainische Militärgeheimdienst schreibt bei Telegram, Russland habe den Damm in Panik vor einer möglichen ukrainischen Offensive gesprengt. "Das ist ein offensichtlicher Terrorakt und ein Kriegsverbrechen, das vor einem internationalen Tribunal als Beweis dienen wird."

Auch international gibt es erste Reaktionen. Der UN-Sicherheitsrat wird sich in einer Dringlichkeitssitzung mit dem Thema befassen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Zerstörung des Staudamms als "neue Dimension" in dem Krieg bezeichnet. Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, schreibt bei Twitter, die Zerstörung sei "beispiellos". "Wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen." Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht Russland in der Verantwortung. "Das ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität des russischen Krieges in der Ukraine zeigt", schreibt er bei Twitter.

Auf den ersten Blick scheinen weder Russland noch die Ukraine einen Vorteil von der Beschädigung des Kachowka-Staudamms zu haben. Dennoch will Kiew bei Russland ein Motiv für die Zerstörung erkannt haben. Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Gegenoffensive zu schaffen, schrieb Präsidentenberater Mychajlo Podoljak bei Twitter. Mit der Aktion wolle Russland die Initiative in der Region wieder an sich reißen. In der Region baute Russland zuletzt seine Verteidigungslinien massiv aus, legte Panzersperren an und grub Schützengräben. Seit einigen Wochen gibt es auf dem linken, von Russland besetzten, Dnjepr-Ufer immer wieder Gefechte, vereinzelt gelingt es der ukrainischen Armee, den Fluss zu überqueren.

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