Anlässlich des 40. Jubiläums der Jugendrevolte der Jahre 1967/68 beklagte der Zeithistoriker Norbert Frei ein Missverhältnis. Und zwar das zwischen der Flut der nicht zuletzt von ehemaligen Aktivisten zu jedem runden Jahrestag publizierten Urteile und Meinungen auf der einen Seite und den wenigen Versuchen, das Geschehen selbst wissenschaftlich zu rekonstruieren, auf der anderen.
Zum 50. Jubiläum steht höchstwahrscheinlich eine neue Welle einschlägiger Veröffentlichungen bevor, aber sind auch neue Befunde zu erwarten? Einen ersten, durchaus erfreulichen Vorgeschmack bietet Eckard Michels, der am Birkbeck College der University of London deutsche Geschichte lehrt.
Vor der Versuchung, eine weitere Kostprobe der sattsam bekannten Veteranenliteratur abzuliefern, bewahrt ihn schon sein Alter. Michels ist 1962 geboren, zu den Achtundsechzigern kann man ihn also sicher nicht zählen. Aber auch konzeptionell beschreitet er ungewohnte Wege: Anders als bisherige, auf Westberlin und den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) fokussierte Darstellungen möchte Michels Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des 2. Juni 1967 in einen größeren Kontext stellen.
Er nimmt deshalb innen- und außenpolitische Aspekte, staatliche Stellen und Protestbewegung, deutsche und iranische Akteure und deren jeweilige Interessen gleichermaßen in den Blick. Deutsche, Iraner, Vertreter der Regierungen, der Medien und der Studentenorganisationen reagierten nämlich, so Michels, "wie in einem System kommunizierender Röhren" aufeinander, was nicht zuletzt zur Eskalation während des Staatsbesuchs und zur anschließenden lang anhaltenden "Entfremdung" zwischen Staat und Teilen der Studentenschaft geführt habe.
Die Polizei hatte die deutsche Studentenbewegung zunächst gar nicht auf der Rechnung
Zunächst beschreibt Michels die Rolle Persiens, wie das Land damals meist genannt wurde, in den internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts, mit besonderem Augenmerk auf das Verhältnis zu Deutschland. Er lässt keinen Zweifel am autokratisch-diktatorischen Charakter der Pahlavi-Dynastie und attestiert Mohammed Reza Pahlavi, der seinen Vater 1941 mit Unterstützung der in der Region damals dominanten Briten als Schah ablöste, spätestens in den 1970er-Jahren "Züge des Größenwahns".
Gleichwohl kann er dem forcierten Modernisierungsprogramm des Schahs auch positive Seiten abgewinnen. Mitte der 1960er-Jahre sei das Land - nach heutiger Begrifflichkeit - eher ein "Tigerstaat" als ein "Entwicklungsland" gewesen. Die Bundesregierung würdigte den persischen Herrscher denn auch als "antikommunistischen Reformer", der bei seinem Besuch 1967 mit einer "sehr zuvorkommenden Behandlung" rechnen konnte.
Die Gastgeber wollten unbedingt vermeiden, dass sich der Schah, der seit 1965 eine geschickte "ost-westliche Pendeldiplomatie" betrieb, dem Ostblock weiter annäherte. Zum positiven Image Irans trug überdies die große Aufmerksamkeit bei, mit der die Ehefrauen des Schahs in der bundesrepublikanischen Regenbogenpresse bedacht wurden.
Im zweiten Kapitel stehen die Vorbereitungen des Staatsbesuchs im Mittelpunkt. Ausführlich schildert Michels die Formierung einer iranischen Opposition gegen das Schahregime in der Bundesrepublik. Immerhin 4000 bis 6000 Iraner studierten Mitte der 1960er-Jahre an westdeutschen Universitäten. Sie stellten damit die größte Gruppe unter den ausländischen Studenten. Etwa 1800 studierten Human- oder Zahnmedizin, nur etwa 30 Geisteswissenschaften.
Bereits 1960 konstituierte sich in Heidelberg ein Dachverband der iranischen Studentenverbände in Europa, die Conföderation Iranischer Studenten (CIS), die 1962 ihren Namen in CISNU - NU stand für National-Union - änderte. Sie erhob den Anspruch, auch für die "unterdrückten Kommilitonen in Iran" zu sprechen. Aus einer Organisation, die sich anfangs vor allem um die "Förderung des kulturellen Zusammenhalts" kümmerte, wurde nach und nach, nicht zuletzt unter dem Eindruck des brutalen Vorgehens der iranischen Behörden gegen die dortige Opposition, das wichtigste "Forum der Schah-Gegner" im westlichen Ausland.
Auf diese Kreise und die insgesamt etwa 17 000 Personen zählende iranische Kolonie in der Bundesrepublik konzentrierten die westdeutschen Sicherheitsbehörden folglich ihre Gegenmaßnahmen, während die heimische Studentenbewegung in ihren Überlegungen anfangs keine große Rolle spielte. Ohnehin war letztere gerade erst dabei, die "Dritte Welt" jenseits des Vietnamkonflikts zu "entdecken".
Entscheidenden Anteil daran hatte Bahman Nirumands "rororo aktuell"-Bestseller "Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt", der Ende Februar 1967 erschienen war. Kritisch merkt Michels an, dass Nirumands Bild "anhaltender Armut" und "ökonomischer Stagnation" in Iran wegen der von ihm herangezogenen veralteten Statistiken nicht mit den "enormen, international mit Erstaunen registrierten Wachstumsraten" und dem rapiden, "auf verbesserte medizinische Versorgung" verweisenden Bevölkerungswachstum zusammenpasste.
Minutiöse Rekonstruktion des Schahbesuchs
Das Herzstück des Buches bildet die minutiöse Rekonstruktion des Schahbesuchs mit den einzelnen Stationen im Rheinland, in München, schließlich am 2. Juni in Westberlin, das der Schah nur auf ausdrücklichen Wunsch der Bundesregierung in sein Besuchsprogramm aufgenommen hatte, und dem Ausklang in Hamburg und Lübeck. Dieses Kapitel vermittelt nicht nur einen mitreißenden Eindruck von der Dramatik der Ereignisse vor und nach dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg.
Michels räumt hier und im folgenden Kapitel über die konkurrierenden Deutungen des 2. Juni zugleich mit einigen damals verbreiteten Fehlinterpretationen auf. So weist er zum Beispiel mit überzeugenden Belegen die im studentischen Milieu gängige Interpretation von der "Notstandsübung" zurück, ebenso die schrillen Anklagen insbesondere durch den SDS, die Bundesrepublik habe sich von einem "postfaschistischen" in ein "präfaschistisches" Staatswesen verwandelt und die Berliner Polizei habe ein "Massaker" veranstaltet.
Geschadet hat diese Tonlage dem SDS übrigens nicht: Er konnte seine Mitgliederzahl vorübergehend auf etwa 2500 verdoppeln. Die von Michels keineswegs verteidigten Reaktionen der Westberliner Polizei und des Senats spiegelten seiner Ansicht nach "eher die Kopflosigkeit und Überforderung der Autoritäten und einen unterschiedlichen Wissensstand vor allem zwischen Senat und Polizeiführung über die Vorfälle während des Schahbesuchs" wider, als dass sie einer systematischen Desinformationskampagne entsprungen seien.
Auch die nach der Enttarnung des Todesschützen als Stasi-Spitzel gelegentlich zu lesende Behauptung, Karl-Heinz Kurras habe seine Tat im Auftrag der Staatssicherheit der DDR begangen, entlarvt Michels im Einklang mit der seriösen Forschung als Legende.
Das auf breiter, zum großen Teil auf archivarischer Quellenbasis fußende, spannende und materialreiche Buch erlaubt einen neuen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Studentenbewegung und das für die innenpolitische Entwicklung der Bundesrepublik so folgenreiche Jahr. Es sucht und findet Erklärungen für die Motive und Absichten der Akteure jenseits der ausgetretenen Pfade. In diesem Stil kann es mit der "Jubiläumsliteratur" gerne weitergehen
Eckard Michels: Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung. Ch. Links Verlag, Berlin 2017. 360 Seiten, 25 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
Werner Bührer ist Zeithistoriker und lebt in München.