Juden in Deutschland:Wie verbreitet ist Antisemitismus und von wem geht er aus?

Lesezeit: 11 Min.

Ein Protestschild von einer Kundgebung gegen Antisemitismus steht vor dem Brandenburger Tor in Berlin (Archivbild) (Foto: picture alliance / dpa)

Die Ablehnung von Juden breitet sich unter Deutschen nicht weiter aus, aber der Antisemitismus zeigt immer offener sein Gesicht. Zahlen und Grafiken zu einem furchtbaren Phänomen.

Von Markus C. Schulte von Drach

Der Antisemitismus in Deutschland nimmt zu, so heißt es häufig. Tatsächlich ist er weit verbreitet, das belegen Umfragen und die Zahlen der Polizei zu antisemitischen Straftaten seit Jahrzehnten eindeutig. Aber zeigen sie auch, dass immer mehr Menschen in Deutschland eine antisemitische Einstellung haben? Und hängt der Antisemitismus, wie lange Zeit angenommen wurde, fast ausschließlich mit einer rechten oder rechtsextremen Einstellung zusammen? Ein Blick auf die relevanten Studien zeigt, dass es komplizierter ist.

Seit 2001 veröffentlicht das Bundesinnenministerium jährlich in der Polizeistatistik die Zahlen antisemitisch motivierter Straftaten und ordnet sie bestimmten Kategorien von Tätern zu. So kam es dem Ministerium zufolge 2018 insgesamt zu 1799 antisemitischen Vergehen. 2014 waren es fast 1600 Fälle, 2006 sogar mehr als 1800. Seit 2001 ist es im Schnitt zu etwa vier Vergehen täglich gekommen.

Ähnlich stark schwankt die Zahl der Gewalttaten: zwischen 28 und 64 Fälle pro Jahr wurden seit 2001 angezeigt. 2018 waren es 37 Fälle.

Hohe Dunkelziffer bei Straftaten

Experten gehen allerdings davon aus, dass es eine große Dunkelziffer gibt, weil viele Fälle gar nicht angezeigt werden. Wie zum Beispiel eine Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) zum Antisemitismus in EU-Staaten schon 2013 zeigte, hatten in Deutschland in den fünf Jahren zuvor nur 28 Prozent derjenigen Juden, die Opfer einer schweren antisemitischen Belästigung geworden waren, dies bei der Polizei oder einer anderen Organisation gemeldet. Die tatsächliche Zahl solcher Straftaten läge demnach mehr als dreimal so hoch.

Auch die Berichte antisemitischer Vorkommnisse in Berlin, die die " Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus" (RIAS) des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin seit 2015 zählt, deuten auf eine hohe Dunkelziffer hin. 2016 wurden dort 470 Vorfälle gezählt, 2017 waren es 951 und 2018 schon 1083. Am häufigsten zählte RIAS "verletztendes Verhalten" - also gezielt böswilliges oder diskriminierendes Verhalten auch ohne antisemitische Stereotype. Auch körperliche Angriffe ohne starke Schädigungen hatten 2018 stark zugenommen. 46 Fälle waren es in diesem Jahr, mit insgesamt 86 Betroffenen. Damit waren es deutlich mehr als 2017, in dem RIAS 18 solche Ereignisse gemeldet wurden. Zu extremer Gewalt gegen Juden ist es der Organisation zufolge seit Beginn der Erfassung 2015 in Berlin nicht gekommen.

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Die Statistik der Berliner Polizei weist deutlich niedrigere Zahlen auf, die allerdings ebenfalls zunehmen. 324 antisemitische Straftaten waren es 2018, und damit 18 mehr als 2017. Von der RIAS werden allerdings auch Vorfälle gezählt, die möglicherweise unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen.

Auf Probleme mit der Polizeistatistik hat der "unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" in seinem Bericht an die Bundesregierung 2017 hingewiesen. Demnach wird die Zahl der tatsächlichen antisemitischen Vorfälle dadurch systematisch unterschätzt, "dass bei jedem Vorfall, bei dem es zu mehreren Delikten gekommen ist (z.B. Beleidigung, Raub, Körperverletzung), nur das Delikt mit der höchsten Strafandrohung gezählt wird". Bei einem Raubüberfall etwa würde also ein antisemitisches Verhalten ignoriert. Außerdem würden Polizei und Justiz antisemitische Straftaten häufig gar nicht als solche erkennen.

Die Zahl antisemitischer Straftaten ist demnach hoch, und es gibt noch deutlich mehr Fälle, als die Polizeistatistik aufzeigt. Bei der gegenwärtig erkennbaren Zunahme muss es sich aber nicht um eine langfristige und anhaltende Entwicklung handeln. Die Statistik lässt sich zumindest als Hinweis nutzen: 2002 und 2006 waren die Fallzahlen hier größer.

Antisemitische Einstellungen werden zunehmend gezeigt

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Eindeutig belegen lässt sich aber eine andere Veränderung beim Antisemitismus in Deutschland. Die Bereitschaft nimmt zu, antisemitische Einstellungen im Internet, insbesondere in den sozialen Medien, unverhohlen zu zeigen. Das zeigen Untersuchungen von Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin. Die Sprachwissenschaftlerin hat etwa Studien zu antisemitischen Äußerungen in den Kommentarbereichen von online-Qualitätsmedien (u.a. Welt, SZ, Zeit, FAZ, taz, Tagesspiegel, Focus) ausgewertet, und zwar "wenn über Themen wie ­NS-Vergangenheit oder Besuche deutscher Politiker in Israel berichtet ­wurde", wie sie in einem Interview mit jungle.world erklärte - und eine signifikante Zunahme festgestellt. Auch bezüglich der Radikalität.

"Der vorhandene Antisemitismus ist auf der Einstellungsebene sichtbarer geworden", stellt auch der Berliner Politikwissenschaftler Samuel Salzborn in der SZ fest. Und wenn die Einstellungen lauter und aggressiver würden, nähmen auch die Straftaten, körperliche Übergriffe, Propagandadelikte und Beleidigungen zu, so Salzborn.

Ohne jeden Zweifel gibt es also nicht nur einen für Leib und Leben von Juden gefährlichen Antisemitismus in Deutschland. Jüdische Mitbürger erleben darüber hinaus zunehmend Ablehnung und Hass, der sich vor allem im Internet ausbreitet. Jede Online-Suche nach Themen, die mit Juden, dem Judentum oder mit Israel zu tun haben, führt auch zu Seiten, auf denen Juden als Feinde der Menschheit und als das Böse schlechthin beleidigt, diffamiert oder sogar auf schlimmste Weise bedroht werden.

Aber wie verbreitet sind antisemitische Vorurteile, Stereotypen und Ablehnung in der Bevölkerung insgesamt, jenseits von Straftaten, Belästigungen oder Beleidigung, die Juden unmittelbar erleben?

2015 unternahm auch die Anti-Defamation League (ADL) in New York City, eine Organisation, die sich gegen Diskriminierung von Juden einsetzt, eine umfassende Befragung zum Antisemitismus weltweit. Zehntausende Erwachsene in 100 Ländern nahmen daran teil.

In Deutschland stellten die Fachleute eine allgemeine antisemitische Haltung bei 16 Prozent der 600 Teilnehmer fest. Und bestimmte Vorurteile gegenüber Juden waren noch deutlich weiter verbreitet.

Auch Fachleute der Universitäten in Bielefeld und Leipzig untersuchen die Verbreitung antisemitischer Einstellungen seit Jahren. Die Wissenschaftler unterscheiden mehrere Formen von Antisemitismus.

Klassischer Antisemitismus

Als "klassisch antisemitisch" gilt etwa die Meinung, Juden hätten in Deutschland zu großen Einfluss, würden nicht hierher passen oder wären mitschuldig daran, dass sie verfolgt werden.

Die Umfragen der vergangenen Jahre zeigen für den klassischen Antisemitismus eher niedrige Werte: In der jüngsten Studie des Instituts für interdisziplinare Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Uni Bielefeld im Jahr 2018/19 zeigten, genau wie 2016, 5,8 Prozent der Teilnehmern diese Form von Antisemitismus.

Eine vergleichbare Studie der Universität Leipzig fand einen antisemitisch eingestellten Anteil der Befragten von 4,8 Prozent. Da eine Reihe von Teilnehmern bei diesen Fragen auch "eher nicht" zustimmen wollten - sie diese Meinung also nicht total ablehnten -, muss man die Werte bei der Zustimmung als etwas zu gering betrachten. Was die Studien beider Universitäten aber klar zeigen: Der klassische Antisemitismus ist gegenwärtig offenbar auf dem niedrigsten Stand seit 2002.

Sekundärer und israelbezogener Antisemitismus

Im Vergleich zum klassischen Antisemitismus ist der Anteil derjenigen, die sogenannten sekundären Antisemitismus zeigen, deutlich höher. Hier wird den Juden zum Beispiel vorgeworfen, sie würden versuchen, aus dem Holocaust Vorteile zu gewinnen. Darüber hinaus gibt es einen israelbezogenen Antisemitismus, der daran zu erkennen ist, dass die Kritik an der Politik Israels einhergeht mit antisemitischen Stereotypen und Nazi-Vergleichen. Ein weiteres Anzeichen dafür ist es, wenn die israelische Politik als typisch jüdisch bezeichnet wird.

21,6 Prozent der von den Bielefelder Wissenschaftlern Befragten warfen den Juden 2018 vor, die Verbrechen der Nazis zu ihrem Vorteil ausnutzen zu wollen (sekundärer Antisemitismus). 40 Prozent äußerten Verständnis dafür, dass Juden wegen der israelischen Politik abgelehnt würden. Und 25 Prozent verglichen die israelische Politik mit jener der Nazis. "In dieser Gleichsetzung [...] offenbart sich die für den Antisemitismus typische Täter-Opfer-Umkehr, die der eigenen Entlastung der deutschen Mehrheitsbevölkerung dient", schreiben die Wissenschaftler.

Gerade die Frage, was noch Kritik an Israel ist und was Antisemitismus, lässt sich aber nicht einfach beantworten. So zeigen Analysen von Friesel-Schwarz, dass in den Tausenden von Emails, die der Zentralrat der Juden und die israelische Botschaft in den vergangenen Jahren erhalten haben, die Ablehnung der Palästinenserpolitik meist mit einem klaren oder zumindest unterschwelligen Antisemitismus einhergeht. "Israel ist definitiv nicht eine, sondern DIE Projektionsfläche für klassischen Judenhass", so die Wissenschaftlerin in ihrem Vortrag im Februar.

Auch Wilhelm Kempf von der Universität Konstanz berichtete 2015, dass 26 Prozent der von ihm befragten Deutschen mit ihrer Israelkritik auch antisemitische Einstellungen zeigten. Aber 38 Prozent übten zwar Kritik an Israel, lehnten zugleich aber antisemitische Stereotype und Vorurteile klar ab. Ihre Haltung basiert Kempf zufolge auf einer pazifistischen Einstellung und dem Engagement für Menschenrechte.

Letztlich zeigt der Blick auf die Daten, dass der antisemitisch eingestellte Anteil der Bevölkerung zumindest nicht größer geworden ist. Das bestätigen auch die Daten der Umfragen der Leibniz-Institute für Sozialwissenschaften in Mannheim und Köln in den sogenannten Allbus-Studien.

Im Gegenteil lässt sich sogar sagen: "Im Zeitverlauf nimmt die Zustimmung zu antisemitischen Meinungen tendenziell ab." So heißt es in einer Expertise des IKG in Bielefeld für den Expertenkreis Antisemitismus. Gerade der sekundäre und israelbezogene Antisemitismus ist allerdings nach wie vor weit verbreitet.

Sozialwissenschaftler aus Bielefeld und Leipzig betonen seit Jahren, dass antisemitische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft verbreitet seien. Klassischen Antisemitismus identifizierten die Bielefelder nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung (5,8 Prozent), israelbezogenen Antisemitismus allerdings bei jedem Vierten. Gemeinhin gilt Antisemitismus aber immer noch als eine Haltung, die vor allem bei politisch rechts orientierten Deutschen zu finden ist.

Das scheint die Polizeistatistik zu bestätigen. Seit 2001 wird in der Rubrik "politisch motivierte Kriminalität" nach rechten und linken Tätern sowie Ausländern und solchen Fällen, bei denen keine Einordnung möglich ist (Sonstige) unterschieden. Die Zahl der Straftaten durch Rechte liegt hier immer um ein Vielfaches höher als die von ausländischen oder linken Tätern.

So wurden 2018 von den 1799 antisemitischen Straftaten 1603 als Delikte von Rechten bewertet. 102 Straftaten wurden Personen mit "ausländischer Ideologie", also nicht religiös, sondern etwa anti-israelisch motivierten Tätern zugeschrieben, weitere 52 Delikte "religiös" motivierten Antisemiten, also meist muslimischen Fanatikern ausländischer sowie deutscher Herkunft. 14 Straftaten - etwa Volksverhetzung - wurden von Linken verübt. 28 Vergehen konnten nicht eingeordnet werden. Sämtliche Werte liegen deutlich höher als im Jahr zuvor.

Doch diese auf den ersten Blick eindeutig wirkenden Zahlen werden zunehmend kritisch betrachtet. Inzwischen gibt es unter den Experten Zweifel daran, dass Rechte tatsächlich für alle die Taten verantwortlich sind, die dieser Kategorie zugeordnet wurden. So wurde lange Zeit kaum berücksichtigt, dass manche antisemitische Straftaten offenbar im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern stehen. Belegt wird dieser Zusammenhang schon dadurch, dass die Zahl der Vergehen durch ausländische und sonstige Täter zunahm, wenn es im Nahen Osten zu einer Eskalation kam.

Im Jahre 2014 etwa fanden im dritten Quartal nicht nur Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg statt; es kam auch zu einer deutlichen Zunahme antisemitischer Straftaten - auch Gewalttaten - von Tätern in den Gruppen "Ausländer" und "Sonstige". (Wobei die ganz überwiegende Zahl der Straftaten offiziell immer noch rechten Tätern zugeordnet wurde.)

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS), die in Berlin 2018 insgesamt 1083 antisemitische Vorfälle gezählt hat, konnte die Hälfte der Täter keinem politischen Spektrum zuordnen, etwa ein Fünftel allerdings schätzt sie als rechtsextrem ein.

Inzwischen versucht die Polizei zu unterscheiden, ob Straftaten antiisraelisch motiviert sind oder antisemitisch: Begeht jemand eine antisemitische Straftat und versucht das nur durch Kritik an Israels Politik zu rechtfertigen? Oder ist das Vergehen tatsächlich durch Hass auf Israel motiviert, und Juden werden als "Stellvertreter" Israels angegriffen?

Experten halten es allerdings für äußerst schwierig, hier klar zu trennen - eine Erkenntnis, die sich schon bei den Studien zum israelbezogenen Antisemitismus in der Bevölkerung ergeben hatte.

Nachdem in Nahen Osten 2000 die zweite Intifada begonnen hatte, kam es dem Expertenkreis Antisemitismus zufolge zu "der juden- und israelfeindlichen Welle von 2002, in der erstmals junge Muslime als Tätergruppe in einigen europäischen Ländern hervortraten". Damit, so die Fachleute, sei "eine weitere Entwicklung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, nämlich der Antisemitismus unter Migrantinnen und Migranten aus muslimisch geprägten Ländern".

Dieser Antisemitismus wurde lange Zeit nicht gut untersucht. Inzwischen haben Umfragen und Untersuchungen deutscher Forschungseinrichtungen, aber auch des Pew Research Center und der Anti-Defamation League in den USA immer wieder gezeigt, dass in Deutschland der Anteil derjenigen, die Juden ablehnen, unter Muslimen größer ist als unter Nichtmuslimen.

Demonstranten verbrennen in Berlin im Dezember 2017 eine Fahne mit Davidstern. Zu der Gefahr, die für Juden von Rechtsextremen ausgeht, kommt seit einigen Jahren eine Bedrohung durch Antisemitismus unter Muslimen. (Foto: Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V./dpa)

Eine erste, gewissermaßen einleitende Studie nahmen Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin bereits 2002 für den European Monitoring Centre on Racisms and Xenophobia (EUMC) vor. Damals stellten die Fachleute fest: "Physische Angriffe auf Juden und die Schändung und Zerstörung von Synagogen waren Handlungen, die im Beobachtungszeitraum vor allem von jungen muslimischen Tätern, meist arabischer Abstammung, verübt wurden. Viele der Angriffe fanden während oder nach Pro-Palästinensischen Demonstrationen statt."

2009 interviewten Experten mehrerer Universitäten etwa 900 Muslime und Nichtmuslime in Deutschland im Alter zwischen 14 und 32 Jahren. Äußern sollten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den Fragen, ob Israel "allein schuldig" sei am Konflikt im Nahen Osten und ob es besser wäre, wenn die Juden den Nahen Osten verlassen würden. Von deutschen Muslimen stimmten 25 Prozent zu,von nichtdeutschen Muslimen 26 Prozent.

In der Umfrage der Anti-Defamation-League 2015 zeigten immerhin 14 Prozent der Christen in Deutschland antisemitische Neigungen, unter Atheisten waren es 20 Prozent. Bei Muslimen war der Anteil den Wissenschaftlern zufolge allerdings 56 Prozent.

Wissenschaftler der Universität Münster befragten im Jahre 2016 türkeistämmige Erwachsenen in Deutschland: 21 Prozent hatten eine negative oder sehr negative Haltung Juden gegenüber. 30 Prozent hielten sich mit "weiß nicht" bedeckt, wobei die Studienautoren für diese Gruppe "eine zumindest latente Abwehrhaltung" annahmen.

Mehrere Umfragen unter Flüchtlingen deuten in eine ähnliche Richtung. Wissenschaftler der Universität Regensburg zum Beispiel interviewten 2017 etwa 750 Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea, Afghanistan und dem Irak: "Über die Hälfte der muslimischen Befragten", so ihr Fazit, "weist deutliche Tendenzen zu antisemitischen Einstellungsmustern auf".

Die Juden in Deutschland nehmen antisemitische Straftaten anders wahr, als es die Polizeistatistik wiedergibt. Bereits 2013 wies Rabbi Daniel Alter von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin auf tagesschau.de darauf hin, dass es neben der Gefahr von rechts auch einen "starken Antisemitismus in der Community mit türkischem, arabischem, islamischen Migrationshintergrund" gebe. Ganze Stadtviertel wären für Juden zu No-Go-Areas geworden, wo sie mindestens mit Pöbeleien oder verbalen Übergriffen rechnen müssten.

2015 bestätigte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Joseph Schuster, in der Welt diese Wahrnehmung: "Die meisten Übergriffe kommen tatsächlich von Rechtsextremisten, die meisten antijüdischen Demonstrationen und lautesten antisemitischen Verunglimpfungen kommen seit einiger Zeit von muslimischer Seite." Und auch Gewalttaten durch Muslime kämen vor.

Die Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (EU-Agentur für Grundrechte) im Jahre 2013 spiegelt diesen Eindruck ebenfalls wieder. Bei Fällen von körperlicher Gewalt oder ihrer Androhung schätzten 40 Prozent der Betroffenen die Täter als Personen "mit extremistisch muslimischer Orientierung" ein. Deutlich seltener wurden sie als links- oder rechtsgerichtet wahrgenommen.

Bei schwerwiegenden Fällen antisemitischer Belästigung war die Verteilung etwas ausgeglichener. Bei den Einschätzungen wurden die Täter allerdings häufig mehreren Kategorien zugeordnet. So wurden 36 Prozent der als extrem muslimisch wahrgenommenen Täter auch als links orientiert erlebt, 19 Prozent als rechtsorientiert. Worauf die Befragten ihre Zuordnung stützten, geht aus der Studie allerdings nicht hervor.

Eine Umfrage des IKG unter mehr als 550 Juden zeigte 2017, dass fast alle irgendeine Form von antisemitischem Verhalten erlebt hatten. 29 Prozent waren beleidigt oder belästigt worden, 16 Teilnehmer hatten körperliche Angriffe erlebt.

Am häufigsten hatten die Betroffenen die Täter als muslimische Personen oder Gruppen wahrgenommen. Ähnlich war es bei den Fällen körperlicher Angriffe. Vier der Angreifer wurden als linksextrem wahrgenommen, einer als rechtsextrem, zwei als christlich. Und in 13 der 16 Fälle beschreiben die Opfer die Täter als muslimisch. Wie die Zahlen deutlich zeigen, gab es allerdings Überschneidungen zwischen den Kategorien. So hatten die Opfer einige Täter zum Beispiel sowohl als muslimisch als auch linksextrem wahrgenommen.

Die Studien zu Antisemitismus unter Muslimen und Nichtmuslimen und die Wahrnehmung der Juden selbst zeigen: Antisemitismus ist zwar unter Rechtsextremen häufig. Ein großer Teil der Ablehnung von Juden und von Angriffen auf sie geht aber auch auf Muslime zurück. Auch die Sorge des Zentralrats der Juden in Deutschland, dass durch Flüchtlinge aus dem arabischen Raum zusätzlich Antisemitismus "importiert" würde, ist demnach nicht unbegründet.

RIAS, bei der Betroffene selbst antisemitische Vorfälle in Berlin melden, berichtete für 2018 allerdings, lediglich 19 Fälle (zwei Prozent) von insgesamt 1083 wären von Tätern aus dem politischen Spektrum "islamistisch" verübt worden. Wie viele Islamisten möglicherweise unter den "israelfeindlichen" Tätern (neun Prozent) waren oder unter jenen, bei denen die politische Einstellung unbekannt war (49 Prozent), ist unklar.

Wie aber kommt es zu der Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Betroffenen, den Umfragen der Sozialwissenschaftler und der Polizeistatistik? Dafür, so heißt es im Bericht des Expertenkreis' Antisemitismus für die Bundesregierung 2017 "gibt es derzeit keine plausible Erklärung".

Fazit

Der offene Antisemitismus "war gesamtgesellschaftlich selten so sehr an den Rand gedrängt wie heute", schreibt der Expertenkreis Antisemitismus. Zwar seien seine modernen Facetten - etwa die Forderung nach einem "Schlussstrich" oder israelbezogener Antisemitismus - in der breiten Bevölkerung noch weit verbreitet. Die Situation aber sei weitgehend stabil.

Antisemiten selbst allerdings sind zunehmend aktiv und treten offensiver auf als früher, worunter die Juden in Deutschland entsprechend leiden. Wie eine Reihe von Studien inzwischen zeigt, ist das Ausmaß antisemitischer Einstellungen unter Muslimen höher als unter Nichtmuslimen. "Insbesondere Migranten aus arabischen bzw. nordafrikanischen Ländern neigen zum Antisemitismus", schreibt der Expertenkreis Antisemitismus. Neben der Herkunftsregion ist noch das Alter von Bedeutung. Es sind vor allem junge Muslime, die deutlich antisemitischer sind als gleichaltrige Nichtmuslime.

Das ist zugleich eine Chance: Denn Schulbildung, so die Fachleute, kann gegen antisemitische Einstellungen helfen. Das gilt auch für bessere Integrationsangebote für junge Muslime: Wer ausgegrenzt wird, reagiert häufig damit, selbst andere abzuwerten.

Eine wichtige Rolle kann den muslimischen Gemeinden zukommen. Viele der für den Expertenkreis befragten Imame sagten in den Interviews, Antisemitismus sei in ihren Gemeinden nicht Ausdruck einer geschlossenen und manifesten Ideologie. Eher handle es sich um unreflektierte antisemitische Stereotype oder Ideologiefragmente. Deshalb sei es eine Chance, in die Bewusstseinsbildung der Gemeindemitglieder einzugreifen und Vorurteile abzubauen. Insbesondere die Gleichsetzung zwischen Juden und dem Staat Israel müsste ihnen zufolge aufgehoben werden.

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( Der Artikel wurde im August 2019 aktualisiert.)

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