Großbritannien:Johnson will das Nordirland-Protokoll aushebeln

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Anti-Brexit-Demonstration vor der Ankunft von Boris Johnson an Hillsborough Castle im Mai. (Foto: Peter Nicholls/Reuters)

Ein Gesetz soll es der britischen Regierung ermöglichen, die EU und den EuGH zu umgehen. In Brüssel ist die Wut groß. Droht nun ein Handelskrieg?

Von Michael Neudecker, London

Was am Montag passierte, fasste am besten der irische Premierminister zusammen. In einem Fernsehinterview sagte Micheál Martin, ein ruhig sprechender Mann mit einem feinen Gespür für Ironie, die britische Regierung habe eine Tendenz, "Dinge erst groß aufzubauschen, bevor sie etwas umsetzt, und dann herunterzuspielen, wenn sie tatsächlich etwas tut".

Das war Martins Antwort auf die Frage nach den neuesten Äußerungen seines britischen Kollegen Boris Johnson, der am Montagmorgen in einem Radio-Interview behauptet hatte: Das Gesetz, das seine Regierung am Nachmittag vorstellen werde, um de facto das Nordirland-Protokoll auszuhebeln, das sei doch wirklich nicht der Rede wert. "Keine große Sache", hatte Johnson gesagt, es handle sich lediglich um ein paar "triviale Änderungen". Es sei doch "unsinnig", wenn die EU darüber nun "einen Handelskrieg" vom Zaun brechen würde.

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Irlands Regierungschef Micheál Martin kommentierte die Pläne der Regierung in London mit Ironie. (Foto: EMMANUEL DUNAND/AFP)

Das Nordirland-Protokoll wurde einst von Johnsons Regierung und der EU ausgehandelt, um nach dem Brexit keine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland zu erzeugen. Es tut im Wesentlichen so, als sei Nordirland noch Teil der EU, sodass Waren erst zwischen Nordirland und der britischen Insel kontrolliert werden müssen - was allerdings zu einer Grenze innerhalb des Königreichs führt. Kein britischer Premierminister dürfe so eine Vereinbarung je unterzeichnen, hatte Johnsons Vorgängerin Theresa May einst gesagt. Johnson tat es dennoch. Eine Folge ist jetzt auch, dass Nordirland keine Regionalregierung hat, denn die bei der Wahl im Mai unterlegene DUP weigert sich, sich an der neuen Regierung zu beteiligen, solange das Protokoll-Problem nicht gelöst ist.

In der EVP hält man das Gesetz für eine "Schande"

Die britische Regierung hat am Montag nun wahr gemacht, was sie seit Wochen ankündigte. Im Unterhaus wurde ein neuer Gesetzesentwurf eingebracht, der es dem Königreich ermöglichen soll, das Protokoll zu ignorieren. Der Vorschlag ist 20 Seiten lang, wichtig sind vor allem zwei Punkte. Zum einen sollen für Waren ein "Green Channel" und ein "Red Channel" zwischen Nordirland und der Insel eingeführt werden: Grün für Waren, die aus Großbritannien ausschließlich nach Nordirland überführt werden und demnach nicht weiter kontrolliert werden müssten. Rot für Waren, die unterwegs sind in die EU und also der Kontrollpflicht unterliegen. Die EU hat das bislang abgelehnt. Sie fürchtet, das untergrabe jegliche Bemühungen, Waren nur nach EU-Standards in den EU-Markt zu lassen, weil jede Art von unkontrolliertem Korridor ein Risiko darstellt.

"Keine große Sache", sagt Boris Johnson. Doch das sieht man in der EU nicht so und auch nicht in einem Teil seiner Partei. (Foto: Tayfun Salci/imago images/ZUMA Wire)

Der zweite Kernpunkt betrifft den Streitfall zwischen EU und UK. Im Protokoll, das Johnson mit ausgehandelt hatte, war dafür der Europäische Gerichtshof als Schiedsinstanz vermerkt. Im neuen Gesetz heißt es, britische Gerichte seien im Konfliktfall zuständig. Ausländische Journalisten wurden am Montagnachmittag von der britischen Regierung unterrichtet, Gesetze, die im eigenen Unterhaus beschlossen würden, müssten eben auch von der eigenen Jurisdiktion überwacht werden. Das liege in der Natur der Sache.

Die Reaktionen der EU fielen entsprechend aus. Maroš Šefčovič, der zuständige EU-Vizepräsident, ließ in einem ausführlichen Statement am Montagabend wissen, die EU nehme das Vorgehen der britischen Regierung "mit großen Bedenken" zur Kenntnis: "Einseitiges Handeln beschädigt das gegenseitige Vertrauen." Eine Neu-Verhandlung des Protokolls sei "unrealistisch" und sorge nur für Unsicherheit in Nordirland. Bundeskanzler Olaf Scholz droht der britischen Regierung wegen des geplanten Bruchs der Brexit-Vereinbarungen weitreichende Maßnahmen an. "Das ist eine sehr bedauerliche Entscheidung. Und es gibt keinen Anlass dafür", sagte Scholz am Montagabend in Berlin. Die EU werde sehr einheitlich reagieren, "und sie hat ihren ganzen Instrumentenkasten dafür zur Verfügung", fügte der Kanzler hinzu, ohne Details zu nennen.

Ähnlich äußerte sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Sie twitterte, London breche einseitig Vereinbarungen "aus durchschaubaren, eigenen Motiven. Das können wir in der EU nicht akzeptieren. Wir werden geschlossen auf diesen Vertrauensbruch reagieren." Auch die US-Regierung hatte immer wieder deutlich gemacht, dass sie ein derartig einseitiges Vorgehen nicht tolerieren würde.

Londons Außenministerin Liz Truss machte in gewohnter Rhetorik die EU verantwortlich: Es liege in der Verantwortung der britischen Regierung, "für politische Stabilität in unserem Land zu sorgen", sagte sie in einem Fernsehinterview. Die EU sei nicht willens, das Protokoll zu ändern, im Protokoll aber liege die Ursache für einige Probleme in Nordirland.

Nur, ob das neue Gesetz, mit dem die Regierung ein von ihr selbst ausgehandeltes Protokoll überschreiben will, tatsächlich irgendwann in Kraft tritt, ist unklar. Seit seinem nur knapp überstandenen Misstrauensvotum ringt Johnson um die Unterstützung seiner Partei, und mehrere Tory-Gruppen haben bereits angekündigt, gegen den Entwurf stimmen zu wollen. In einer internen E-Mail unter anderem von Tory-Abgeordneten, die von der Politik-Website PoliticsHome verbreitet wurde, wird das Vorgehen als "schädlich" bezeichnet - "für alles, wofür das Vereinigte Königreich und die Konservativen stehen". Am Montagnachmittag veröffentlichten zudem 52 der 90 Abgeordneten des nordirischen Parlaments einen offenen Brief an Boris Johnson, in dem sie das neue Gesetz strikt ablehnen und verurteilen. Und zwar "auf das Allerschärfste".

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