Die Liste sei ziemlich lang, heißt es in manchen Berichten, ein gutes Dutzend Namen stehe inzwischen darauf. Stimmt nicht, die Liste sei in Wahrheit ziemlich kurz, berichten andere Medien, allenfalls zwei oder drei Personen hätten nennenswerte Chancen. Das klingt verwirrend, aber so geht das alle vier Jahre in den USA, wenn ein Präsidentschaftskandidat nach einem Vizepräsidentschaftskandidaten sucht.
Namen tauchen auf, Namen verschwinden wieder, die Spekulationen blühen. Warum also soll es dieses Jahr bei Joe Biden anders sein?
Wobei: Als sicher darf gelten, dass der demokratische Präsidentschaftskandidat auf der Suche nach einer Vizekandidat in ist. Eine Frau werde es sein - das hat Biden schon vor einiger Zeit versprochen, als sich abzeichnete, dass die Partei wieder mit einem Mann an der Spitze in den Kampf ums Weiße Haus ziehen würde. Unbeantwortet ist die Frage: welche Frau?
Neuengland-Aristokrat Kennedy wählte einen Südstaatler
Es gibt, wenn es um die Auswahl eines geeigneten Vizekandidaten geht, eine traditionelle Denkschule. Danach ist der oder die Vize dazu da, einen politischen Makel des Hauptkandidaten auszubalancieren. Das kann die geografische Herkunft sein, weswegen sich zum Beispiel Neuengland-Aristokraten wie John F. Kennedy und John Kerry in ihren Wahlkämpfen Südstaatler aus Texas respektive North Carolina als Vizes ausgesucht haben.
Aber es gibt noch etliche andere Merkmale, die mittels des Vizekandidaten austariert werden sollen - Alter, Geschlecht, ideologische Ausrichtung, politische Erfahrung. Der texanische Provinzler George W. Bush machte den Washingtoner Insider Dick Cheney zum Vize. Der alte Washingtoner Insider John McCain wiederum suchte sich die junge Gouverneurin von Alaska aus, Sarah Palin, deren hinterwäldlerische Unerfahrenheit "erfrischend" sein sollte. Die umstrittene Frau Hillary Clinton zog mit dem betonsoliden Mann Tim Kaine ins Rennen. Donald Trump, im Politischen wie im Privaten ein Hallodri, suchte sich den biederen, frömmelnden Mike Pence aus. Und der junge schwarze Senator Barack Obama machte den altgedienten weißen Senator Joe Biden zu seinem Vize.
Jetzt steht Biden vor der Frage, welchen seiner Makel er mit welcher Vizekandidatin ausbalancieren möchte. Dass er ein 77 Jahre alter weißer Mann ist? Das würde dafür sprechen, zum Beispiel Kamala Harris zur Vize zu ernennen, die 55 Jahre alte Senatorin aus Kalifornien, Tochter indisch-jamaikanischer Einwanderer. Oder dass er in ideologischer Hinsicht ein Moderater ist? Das könnte er durch die Auswahl einer Vertreterin des linken Parteiflügels der Demokraten korrigieren. Da würde sich vor allem Senatorin Elizabeth Warren anbieten, eine klassische Sozialdemokratin.
Allerdings könnten die Demokraten einen Sitz im Senat verlieren, wenn Warren zur Vizepräsidentin aufsteigt - Massachusetts hat einen Republikaner als Gouverneur, der wohl erst einmal einen Parteifreund als Nachfolger für Warren einsetzen dürfte. Und: Sie ist so weiß wie Biden. Für eine Partei, die Amerikas ethnische Diversität widerspiegeln will, ist das ein Problem. Das gilt auch für mögliche Vizekandidatinnen wie Amy Klobuchar (weiß) und Gretchen Whitmer (weiß). Die Senatorin aus Minnesota oder die Gouverneurin von Michigan könnten Biden zwar helfen, im November wichtige (und überwiegend weiße) Bundesstaaten im Mittleren Westen zu gewinnen, in denen die Wähler ideologisch gemäßigte Politiker vorziehen. Aber eigentlich sollte Biden das auch alleine schaffen. Sein politischer Markenkern ist schließlich, ein vernünftiger Mitte-Demokrat zu sein.
Bidens Schwachstelle, das haben die Vorwahlen klar gezeigt, sind junge, linke Wähler und Latinos. So gesehen, wäre es für ihn daher vielleicht besser, Stacey Abrams auszuwählen, eine schwarze Politikerin aus Georgia und Ikone des "progressiven" Parteiflügels. Andererseits: Amerikas Schwarze haben in den Vorwahlen fest zu Biden gehalten. Auf der spekulativen Liste möglicher Vizekandidatinnen stehen daher auch Politikerinnen aus dem Südwesten der USA, die lateinamerikanische Wurzeln haben, etwa Catherine Cortez Masto, eine Senatorin aus Nevada.
Loyalität könnte für Biden das entscheidende Kriterium sein
Doch vielleicht denkt Biden auch ganz anders. Leute, die ihn kennen, sagen, dass für ihn Loyalität und eine enge persönliche Verbindung die entscheidenden Auswahlkriterien sein werden. Biden will eine Vizepräsidentin, die ihn so bedingungslos und freundschaftlich unterstützt, wie er früher Obama unterstützt hat.
Zudem hat Biden wissen lassen, dass er darauf achten wird, eine Frau mit nennenswerter politischer Erfahrung auszuwählen. Biden weiß, dass er auf die 80 zugeht und wohl allenfalls eine Amtszeit durchhält. Sollte er die Wahl gewinnen, so hat er es ausgedrückt, dann wäre er für die Demokratische Partei nur eine "Brücke" auf dem Weg in die Zukunft. Bidens Vizepräsidentin soll nach seinem Willen dazu in der Lage sein, jederzeit das Präsidentenamt zu übernehmen - oder in vier Jahren sein politisches Erbe anzutreten.
Wer das sein könnte? Wahrscheinlich hat Biden eine Liste mit ein paar Namen.