Der Altbundespräsident fühlt sich zum Weckruf verpflichtet. Darum hat Joachim Gauck eben seine Sicht der "Erschütterungen", die die Demokratie bedrohen, in Buchform vorgelegt. Genauer gesagt handelt sich um eine Kaskade dramatischer Weckrufe. Unterstützt von der Publizistin und Journalistin Helga Hirsch, kann Joachim Gauck seine immense, differenzierte Erfahrung zur Geltung bringen. Er arbeitete ja viele Jahre in der damaligen DDR als Pastor. Er war aktiv im öffentlichen Widerstand gegen die SED-Diktatur, dann Abgeordneter in der freien Volkskammer, von 1990 bis 2000 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und schließlich elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Dieser sensibel geschulte Blick auf die Demokratie wird in dem Buch nicht umgesetzt in freundliches, positives Pathos - was man sonst von einem ehemaligen Präsidenten so erwarten würde -, sondern in die höchst dramatische Warnung vor der Gefährdung der Demokratie.
Viele Fragen treiben Gauck um: Zweifel an der Bereitschaft zur Verteidigung der Demokratie, Zweifel an den Werten der westlichen Demokratie, das Gefühl der Bedrohung durch die aktuellen Krisen. Gauck ist erschrocken über die vielen Gewaltausbrüche , über die reaktionären, verfassungsfeindlichen Aktivitäten. Und er bedauert, wie endlich unsere Möglichkeiten sind, die Vitalität der Demokratie zu sichern.
Den Deutschen wirft er Realitätsblindheit vor
Das Buch ist anregend. Es liest sich feinsinnig, gut und angenehm, ohne die üblichen Kopfschmerzen durch komplizierte Formulierungen. Gauck nimmt uns locker mit auf die Pfade der Problemerkenntnis. Er nennt in seinem Buch einen Zweifel nach dem anderen im Blick auf die Stabilität der Demokratie: Ist unsere Gesellschaft überhaupt bereit, die Demokratie entschlossen zu verteidigen? Warum fehlt uns das Bewusstsein von der Kraft unserer Werte? Warum entwerfen Politiker und Intellektuelle geschönte Wirklichkeiten? Dann gesteht Gauck ein: "Wir beginnen zu begreifen - spät, aber immerhin." Große Teile der Beispiele entnimmt Gauck der Ostpolitik. Er wirft den Deutschen Realitätsblindheit vor und kann dafür sofort die Wahrnehmungslücken benennen.
Vor diesem Hintergrund beschreibt Gauck, wie er am 27. Februar 2022 auf der Besuchertribüne des Deutschen Bundestages saß und die große Ankündigung des Bundeskanzlers von der "Zeitenwende" vernahm. Dass aber das "Wohin?" fehlte, sei ihm auch erst recht spät aufgegangen. So beschreibt er dann die Demokratie als ein "System der ungesicherten Gewissheiten". Wörtlich formuliert er: "Ich sehe mit Erschrecken, dass hier eine Querfront entsteht, die die 'Misstrauensgemeinschaft' unzufriedener Bürger zum Reservoir einer systemfeindlichen Politik machen könnte."
Wenn künftige Historiker nach erklärenden Überschriften für die aktuelle Ära suchen, dann werden sie sie wohl - auch nach der Lektüre des Gauck-Buches - als "Epoche der Konfusion" bezeichnen. Sehnsucht nach Orientierung bietet die kulturelle Grundierung für jene Ratlosigkeiten, Irritationen und fehlenden strategischen Perspektiven. Man könnte ja auch von geistiger Not sprechen.
Die Kraft der Zuversicht wird beschworen
Da ging es früheren Epochen viel besser - auch im Pro und Contra. Die Ära Adenauer war mit Wiederaufbau und Westbindung voll beschäftigt, die Ära Brandt mit Demokratisierung und Ost-West-Entspannung, die Ära Kohl mit Europa und deutscher Einheit, die Ära Merkel mit permanentem Krisenmanagement. Und jetzt? Da werden "Machtworte" gesprochen - man weiß aber nicht genau, "wozu".
Mit einigen freundlichen Zurufen wird wohl niemand aus dieser politisch-kulturellen Not befreit. In dieser Stimmungslage ist auch Joachim Gauck nicht anzutreffen. Er ruft auf zu einem starken Engagement für die Freiheit in der Demokratie, für das Vertrauen in die Träger der politischen Verantwortung, für die Zustimmung zur demokratischen Pluralität. Und er verbirgt auch nicht seine Sehnsucht nach charismatischen Führungspersönlichkeiten.
Gauck appelliert aber auch, die Kraft der Zuversicht nicht zu vernachlässigen. Wie sollen nun aber die einzelnen strategischen Schritte, die notwendig sind, konkret aussehen? Gauck selbst teilt mit, es gehe nicht nur darum, von solch positiven Perspektiven zu träumen. Aber dann lässt er uns doch allein bei der Suche nach der konkreten Verwirklichung. Man ist als Leser geneigt, Gauck zuzurufen: Vielen Dank für die Schärfung des Problemhorizonts. Aber bei der Suche nach der dringenden, konkreten Strategie zur Problemlösung dürfen Sie uns nun nicht alleinlassen.
Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München.