Joachim Gauck:"Kämpferischer und fröhlicher werden"

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Der Alt-Bundespräsident über Toleranz in der offenen Gesellschaft und die Stärke der freiheitlichen Republik.

Interview von Detlef Esslinger und Cerstin Gammelin

Herr Gauck, haben Sie neulich den Presseauftritt der AfDPolitiker Brandner, Gauland und Weidel gesehen, nach der Abwahl des Herrn Brandner vom Vorsitz des Rechtsausschusses im Bundestag?

Nur das, was in den Nachrichten zu sehen war.

Die Drei haben Fragen von Journalisten als doof und dümmlich bezeichnet. Soll man solchen Leuten dann überhaupt noch Fragen stellen?

Wissen Sie, das Interessante ist doch, dass sie alles daran setzen, als bürgerliche Partei zu gelten. Und dann treten sie häufig so entlarvend auf. Bürgerlich wäre, anderen Menschen, auch solchen mit anderer Meinung tolerant und respektvoll zu begegnen.

Ist es also sinnvoll, ihnen noch Fragen zu stellen?

Aufgrund des Wahlverhaltens unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sitzen im Bundestag Abgeordnete, die wir zum Teil nicht mögen. Aber in einer offenen Gesellschaft müssen wir die Toleranz aufbringen, sie zu Wort kommen zu lassen, jedenfalls solange sie nicht verfassungsfeindlich auftreten und Hass verbreiten.

Es heißt immer, man müsse unterscheiden zwischen AfD und AfD-Wählern. Doch in Thüringen hat jeder gewusst, dass man Björn Höcke, also einen Nazi, wählt.

Aber aus welchen Motiven? Ein Teil identifiziert sich tatsächlich mit den Zielen der Partei. Bei einem anderen Teil war das Leitmotiv: Protest. Gerade in Gesellschaften, die sich im Übergang befinden, gibt es oft so etwas wie eine gefühlte Entheimatung, eine Fremdheit gegenüber der Moderne und der Rolle, die der Einzelne darin hat. In drei Generationen wurden Gehorsam und Anpassung, Furchtsamkeit und Schwarz-Weiß- Denken eingeübt. Viele Menschen dort bevorzugen paternalistische Fürsorge, fürchten sich vor streitigem Diskurs. Es ist eine andere Mentalität gewachsen als in Gesellschaften, in denen die Erziehung zur Eigenverantwortung ermächtigte: durch Lektüre freier Medien, durch Gewerkschaften, die den Namen verdienen, durch Parteien mit ganz unterschiedlichen Ansätzen.

Joachim Gauck: "Wissen Sie, was so erschreckend und gleichzeitig so überfüssig ist? Dass viele so tun, als wären die Populisten kurz vor der Machtübernahme." (Foto: Eduard Bopp/imago images)

In der DDR gab es viele Menschen, die sich irgendwie einrichteten.

Die normale Lebensform war: Ich passe mich so weit wie nötig an. Eine unüberzeugte Minimalloyalität. Hinzu kam die Verstaatlichung der kleinen und großen Unternehmen. Dadurch fiel auch die Wirtschaft als Trainingsfeld für Eigenverantwortung aus. Sachsen wäre heute auf Augenhöhe mit Baden- Württemberg, wenn die SED nicht all den Mittelstand dort ruiniert hätte. Die Kultur der Eigenverantwortung verwandelte sich in eine Kultur des gelenkten Fleißes, wie zur Zeit der Fürsten: Wenn du brav bist, wirst du belohnt. Dann kommst du nach oben.

Nun wird die AfD nicht nur im Osten gewählt.

Richtig. Man darf bitte nie unterstellen, dort gebe es einen Charakterfehler. Der Wessi kann auch Diktatur. Wer's nicht glaubt, soll sich anschauen, ob die Bürgermeisterposten und Lehrstühle im Westteil Deutschlands während der NS-Zeit besetzt oder unbesetzt waren. Sie waren alle besetzt. Und außerdem: In Baden-Württemberg saßen zeitweise zwei rechtsradikale Parteien, die NPD und die Republikaner, im Landtag. Auch im Westen gibt es ein Unbehagen an der Moderne. Freiheit von etwas - das will jeder. Freiheit zu etwas - das kann auch anstrengend werden. Schauen Sie sich Skandinavien an, die Schweiz, die Niederlande, diese so geordneten Gemeinwesen dort. Genau in diesen Musterdemokratien haben wir seit Jahren ganz starke nationalpopulistische Parteien.

Warum?

Die Menschen dort haben zwar die Segnungen einer ermächtigenden Erziehung genossen. Aber Globalisierung, Digitalisierung, kultureller Wandel, auch eine neue ethnische Diversität verunsichern sie. Die Nationalpopulisten bieten ihnen einen Trost an: Schaut, wie schön es war, als wir eine homogene Nation waren, als wir uns zu Hause fühlten. Und das wirkt bei Teilen der Gesellschaft, obwohl die Populisten kein tragfähiges Zukunftskonzept vorlegen.

Mit den Farben der Republik: AfD-Demonstranten in Erfurt, während des Thüringer Landtagswahlkampfes. (Foto: Christof Stache/AFP)

Stehen wir vor einem ähnlichen Umbruch wie 1989, nur in die andere Richtung?

Das wäre ja noch schöner, jetzt ins katastrophische Denken zu verfallen. Dazu sind die Argumente dieser populistischen Tröster zu schwach. Deren Bäume werden nicht in den Himmel wachsen, gerade in Deutschland nicht. Wenn wir aber der Frage nachgehen, warum es europaweit einen Trend nach rechts gibt, lohnt es sich, auf Studien einzugehen, die vor Kurzem in 28 europäischen Ländern zu dem Ergebnis kamen, dass 33 Prozent der Menschen eine autoritäre Disposition haben. Ihnen ist Sicherheit lieber als Freiheit, Führung lieber als Debatte, und gesellschaftlicher Wandel ist für sie nicht Fortschritt sondern Gefahr. Vielleicht müssen wir begreifen, dass ein bestimmter Teil der Gesellschaft in der Weite der politischen Moderne unbeheimatet ist. Aus dieser Grundhaltung entwickeln die einen wertkonservative Positionen und die anderen reaktionäre. Den Demokratiefeinden, Rechtsbrechern und Hasspredigern müssen wir mit Intoleranz antworten. Aber wir dürfen nicht alle in einen Sack stecken, die mit der liberalen Demokratie fremdeln. Deswegen plädiere ich für eine erweiterte Toleranz, nicht nur nach links, sondern auch nach rechts.

Was heißt das?

Nehmen Sie die Beispiele der Schriftsteller Uwe Tellkamp und Rüdiger Safranski. Es darf doch nicht so kommen, dass Buchhändler, eine Uni oder ein Kulturinstitut sich fragen: Können wir die noch einladen, oder könnte das in der SZ oder anderswo negativ kommentiert werden? Einen Hygiene-Eifer, der Meinungen als demokratiefeindlich erachtet, die etwas jenseits der liberalen Mitte liegen, halte ich für nicht hilfreich. Dahinter steckt doch immer eine altlinke Angst: Wenn wir zu offen reden, werden die Deutschen wieder faschistisch. In der Adenauer-Zeit hätte ich diese Angst wohl auch gehabt. Wäre ich im Westen aufgewachsen, wäre ich ein Achtundsechziger gewesen, schon wegen Hans Globke ...

... Adenauers Kanzleramtschef, der unter Hitler den juristischen Kommentar zu den Rassegesetzen geschrieben hatte ...

... genau, da gibt's gar kein Vertun. Aber nach 70 Jahren gewachsener Demokratie muss sich niemand mehr darum sorgen, dass die Deutschen die Demokratie verraten und wieder eine Diktatur anstreben würden.

Wer versucht denn ernsthaft, Debatten zu verhindern?

Na schauen Sie, wenn in Hamburg Herr Lucke, der Gründer der AfD, seine Vorlesung nicht halten darf ...

Das Einmaleins der Demokratie erklären: Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, hier am Lift an der Skisprungschanze in Eilenburg. (Foto: Florian Gaertner/photothek/imago images)

... das waren einzelne Idioten, mehr nicht.

Nun, es gab eine breite Mediendebatte, und unser Bundespräsident hat sich zweimal geäußert, um Meinungsfreiheit anzumahnen. Wir sehen Anfänge, die man beachten sollte. Wenn Thomas de Maizière wie kürzlich in Göttingen und ein paar Jahre zuvor an der Humboldt-Uni in Berlin von linken Aktivisten an Vorträgen gehindert wurde, hat die demokratische Mehrheit für Meinungsfreiheit und Toleranz zu streiten. Schon vor zwei Jahren sah sich der Deutsche Hochschulverband veranlasst, davor zu warnen, jede abweichende Meinung als unmoralisch zu stigmatisieren.

Wie weit soll erweiterte Toleranz gehen? Heißt das, dass man im Thüringer Landtag doch mit der AfD ...

... jetzt kommen die schwierigen Fragen. Dass der Bundestag sagt: Ein AfD-Politiker als Vize kommt nicht infrage, ist zwar sein gutes Recht. Fraglich ist jedoch, wem diese Entscheidung politisch nützt. Allein mit Moral kann man Sachfragen nicht lösen. Wenn hingegen Teile der Thüringer CDU sagen, mit der AfD könne man koalieren, und schon habe man eine schöne bürgerliche Mehrheit - da frage ich: Wie bitte? Bürgerlich? Ich sehe da kaum etwas Bürgerliches.

Was reitet diese CDU-Politiker? Zu dem Befund kann es eigentlich keine zwei Meinungen geben.

Ja, das denke ich auch. Die finden es halt frustrierend, dauerhaft eine Linksregierung zu haben. Wissen Sie, ich bin aufklärerisch geprägt und deshalb als Demokrat auch bewusst Antikommunist. Aber den Herrn Ramelow kann man nun wirklich nicht als kommunistische Gefahr oder als Linksextremisten bezeichnen.

Hätten wir nicht erwartet, dass ausgerechnet Sie neulich zur Zusammenarbeit von CDU und Linken rieten.

Hinauf ans Licht: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) besichtigt im Wahlkampf das Besucherbergwerk 'Schwarze Crux'. (Foto: Martin Schutt/DPA)

Ich muss mir doch die Wirklichkeit anschauen und anerkennen, dass diese Partei mehrheitlich in Richtung Pluralismus gegangen ist und ihre Akteure den Rechtsstaat und eine sozialstaatlich orientierte Marktwirtschaft bejahen. Man braucht nicht gleich mit ihr zu koalieren. Das wäre für die Union strategisch falsch. Aber es gibt ja noch andere Formen des Zusammenwirkens. Wohingegen eine Einbeziehung der AfD beim besten Willen nicht geht. Sie hat nicht erklärt, wohin sie in Wahrheit will. In ihren internen Kämpfen gewinnen meistens diejenigen, die nach Rechtsaußen tendieren und unsere offene Gesellschaft verachten. Allein schon die Benutzung des Wortes "System"! Das war der Begriff von rechten und linken Demokratiefeinden in Weimar. Oder wenn gerufen wird: "Wir sind das Volk." Sie sind aber eine Minderheit des Volkes. Wenn das Volk entscheiden würde, würde es die AfD lieber verbieten, als ihr einen Regierungsauftrag erteilen. Hier gibt es viel Arroganz von Leuten, die ein paar Wahlerfolge errungen haben und sich maßlos überschätzen. Und in Thüringen ist ihr Weg nach rechts außen besonders deutlich. Vielleicht entwickelt sie sich ja noch zu einer irgendwie deutschnationalen Partei, die zwar nicht mein Geschmack, aber Teil des demokratischen Spektrums wäre. Aber das sehe ich gegenwärtig nicht, eher das Gegenteil.

Was empfehlen Sie den Demokraten?

Die Verfechter der offenen Gesellschaft müssen selbstbewusster, kämpferischer und fröhlicher werden. Wissen Sie, was so erschreckend und gleichzeitig überflüssig ist? Dass viele so tun, als wären die Populisten kurz vor der Machtübernahme. Niemals wird es dazu kommen. Mit unserer Fokussierung auf ihre Parolen fördern wir sie nur. Aber wenn eine Partei ein Führungs- oder ein Identitätsproblem hat, oder innere Zweifel, ob ihr Weg der richtige ist ...

... Sie meinen SPD und CDU...

... dann ist ihre argumentative Kraft wohl nicht besonders stark. Eine neue Stärke der demokratischen Mitte wird es wohl nur geben, wenn deren Parteien ihre Profile erkennbarer machen und Führungen aufgebaut werden, denen die Menschen Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit zutrauen.

Bekommen Sie eigentlich noch Briefe und Mails, in denen Sie wüst beschimpft werden?

Will ich doch hoffen. Man muss seine richtigen Feinde haben.

Antworten Sie?

In der Regel nicht. Auf seriöse Kritik hingegen schon.

2016 haben Sie Sebnitz besucht. Demonstranten riefen: "Hau ab", "Volksverräter".

(Lacht laut).

Hat Sie das etwa amüsiert?

Na ja. Ich habe mit demokratischem Frohsinn in ihre hasserfüllten Gesichter geschaut.

Wirklich?

Natürlich! Ich habe doch gesehen, dass es dort auf dem Marktplatz eine Mehrheit freundlicher, konstruktiver Menschen gab. Außerdem bin ich nicht besonders ängstlich. Ich bin ein Mensch, der glaubt, dass bessere Dinge möglich sind. 1989 habe ich Menschen in Rostock geholfen, die eigene Angst zu überwinden. Ich habe erlebt, dass so etwas möglich wird - ein Grund zu großer Freude. Und da soll ich vor aufgeblasenen Demokratiefeinden zurückschrecken?

Wie holt man Menschen in den Diskurs zurück?

Es gibt Kämpfe, über die du dich freuen musst. Du musst dich freuen, dass du für deine Demokratie kämpfen darfst. Weil du weißt, wie erniedrigend das Leben ohne Demokratie war. Und es ist wichtig, die guten Argumente der Demokratie einzusetzen und nicht nur eine moralische Empörung. Dann kriegst du einige sofort, und einige später. Nehmen Sie den jungen Ministerpräsidenten von Sachsen. Wie er sich dieses Jahr die Mühe machte, von Ort zu Ort zu gehen, zuhörte und das Einmaleins der Demokratie erklärte. Manchmal sind es allerdings weniger Argumente, die den Ausschlag geben, sondern dass jemand merkt: Ich werde wahrgenommen, oder er hat mich ausreden lassen!

© SZ vom 01.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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