Japan:Shinzō Abe stirbt nach Attentat

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Japans Ex-Premier ist bei einem Auftritt in Nara niedergeschossen worden und seinen Verletzungen erlegen. Die Polizei hat bereits einen Verdächtigen gefasst, aber die genauen Hintergründe der Tat sind noch unklar.

Von Thomas Hahn, Tokio

Zwei Schüsse, die wie Explosionen klingen. Rauch am Bahnhof Yamato-Saidaiji in Nara. Und im nächsten Augenblick liegt Shinzō Abe am Boden, der gerade noch aufrecht unter Schaulustigen gestanden und eine Wahlkampfrede zur Oberhauswahl am Sonntag gehalten hat. An seinem Hemd ist Blut. Menschen rufen um Hilfe. Sanitäter eilen herbei. Sicherheitskräfte fangen den Mann ein, der die Schüsse abgegeben hat. Und während die Augenzeugen des Attentats noch versuchen, zu verstehen, was sie gerade erlebt haben in ihrer sonst so friedlichen Heimatstadt, beginnt der Kampf um das Leben von Shinzō Abe, dem Rekord-Premierminister Japans und prägenden Ex-Präsidenten der Regierungspartei LDP.

Aber er ist vergeblich. Um 17.03 Uhr Ortszeit bestätigt das Universitätskrankenhaus in Nara, dass Shinzō Abe seinen Verletzungen erlegen sei. Die Todesursache sei vermutlich der hohe Blutverlust gewesen. "Es gab Blutungen an verschiedenen Stellen, die nicht vollständig gestoppt werden konnten", sagte der Arzt Hidetada Fukushima auf einer Pressekonferenz, "leider hat sein Herzschlag nicht wieder eingesetzt." Shinzō Abe sei nach dem Anschlag nie mehr bei Bewusstsein gewesen.

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Shinzō Abe war länger japanischer Premier als alle anderen vor ihm. Immer hatte er vor, das Land nach seinen Vorstellungen zu stärken. Auch jetzt noch, im Ruhestand. Nun hat ihn ein Attentäter erschossen.

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Fassungslosigkeit und Trauer erfassten die politischen Kreise des Inselstaates. Aus der ganzen Welt kamen Beileidsbekundungen. US-Präsident Joe Biden ließ ausrichten, er sei traurig und verurteile die Gewalttat. Shinzō Abe war einer der bekanntesten Politiker Japans, eine polarisierende Figur mit glühenden Verehrern und wütenden Kritikern. Umso mehr verstörte der tödliche Anschlag von hinten aus nächster Nähe mitten am Tag gegen halb zwölf Uhr mittags unter Schaulustigen. Hätte Abe nicht besser geschützt sein müssen in der Menge? Premier Fumio Kishida, einst Außenminister unter Abe, kehrte eilig von einem Wahlkampftermin in Yamagata nach Tokio zurück. Er kämpfte mit den Tränen, als er vor der Presse stand. "Einen feigen und barbarischen Akt" nannte er das Attentat. Er könne sich keinen Reim darauf machen. Die Regierung verstehe "noch nicht vollständig" die Motive hinter dem Angriff.

Ob diese je zu verstehen sein werden, ist allerdings fraglich. Der mutmaßliche Täter war sofort gefasst. Es lagen schnell relativ viele Informationen über ihn vor. Japans Behörden haben keine Skrupel, Verdächtige beim Namen zu nennen. Deshalb wusste die Nation bald, dass der mutmaßliche Schütze Tetsuya Yamagami heißt. Dass er 41 Jahre alt ist, in Nara wohnt. Außerdem dass ein Mann seines Namens und seines Alters nach Recherchen des Verteidigungsministeriums von 2002 bis 2005 bei den maritimen Selbstverteidigungsstreitkräften diente. Dort habe er gelernt, wie man schießt, Gewehre zusammenbaut und zerlegt.

Als mutmaßliche Tatwaffe stellte die Polizei ein offensichtlich handgefertigtes Gewehr sicher, dessen Lauf mit Klebeband umwickelt war und das eine Zeugin der Zeitung Asahi als "Panzerfaust" beschrieb. Es gibt auch Videoaufnahmen von dem mutmaßlichen Täter vor dem Attentat. Unauffällig steht er in Abes Rücken. Graues T-Shirt, Brille, schwarze Umhängetasche. Seine Corona-Maske hat er nicht richtig über die Nase gezogen. Er klatscht Beifall, als Abe die Bühne betritt. Als Abe zu reden beginnt, scheint er mit sparsamen Kopfbewegungen die Lage zu prüfen. Danach muss er entschlossen vorgegangen sein. Besagte Augenzeugin sagte der Zeitung Asahi, der erste Schuss sei danebengegangen. Abe habe einfach weitergeredet. Der Schütze sei ein paar Schritte zurückgegangen und habe noch einmal gefeuert.

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Aber warum? Weshalb diese Gewalt? Am Nachmittag gab die Polizei eine erste Aussage aus der Vernehmung des Täter heraus. Demnach habe er gesagt: "Es war nicht, weil ich einen Groll gegen seine politischen Überzeugungen hegte."

Ein politischer Anschlag war der Mord Abes also wohl nicht. Eher eine Tat aus krankhafter Verzweiflung. In den vergangenen Jahren gab es in Japan immer wieder sinnlose Gewaltverbrechen, nach denen die Täter, stets junge Männer, sich zu ihrer zerstörerischen Wut bekannten. Vergangenes Jahr gab es eine ganze Serie solcher Fälle in Tokioter U-Bahnhöfen und -zügen. Zuletzt Ende Oktober 2021, als ein junger Mann im Kostüm des Batman-Bösewichts Joker einen Messer- und Brandanschlag in einem Innenstadtzug der Keio-Linie verübte. In seiner Vernehmung gab er an, er sei im Berufs- und Privatleben gescheitert: "Ich wollte Menschen töten und dafür die Todesstrafe bekommen."

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Der Mord an Shinzō Abe ist anders als jene Mordversuche vom vergangenen Oktober. Ziel des Anschlags war Abe und nur er. Es gab keine anderen Verletzten. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten. Die Tat wirkt auf den ersten Blick sinnlos, unmotiviert und willkürlich. Und damit umso schrecklicher.

Für die tieferen Fragen zum Geschehen war am Tag der Tat noch keine Zeit. Alle waren damit beschäftigt, das Unbegreifliche zu begreifen. Eine Taskforce im Büro des Premierministers wurde eingerichtet. Die Polizei durchsuchte die Wohnung des Festgenommenen und fand etwas, das nach Sprengstoff aussah. Aber so richtig passte nichts ins Bild an diesem schwarzen Freitag.

Vorfälle mit Schusswaffen sind selten in Japan. Die Waffengesetze sind streng im Inselstaat. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurde noch nie ein tödlicher Anschlag auf einen Regierungschef verübt. Und die Menschen in Japan sind zwar nicht zwingend zufrieden mit der Regierungspolitik. Aber sehr oft duldsam bis gleichgültig. Man fügt sich den Mechanismen der Kollektivgesellschaft und regt sich nicht zu sehr auf über die da oben in der Regierung, weil man glaubt, ohnehin nichts ändern zu können an ihren Entscheidungen.

Aber die Schüsse von Nara zeigen, dass man selbst dem japanischen Frieden nicht trauen kann.

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