100 Jahre Oktoberrevolution:Wie die Ukraine die Revolution verräumt

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Es war einmal: Eine überlebensgroße Lenin-Statue in der ostukrainischen Stadt Charkiw. (Foto: Reuters)
  • Statt des 100-jährigen Jubiläums der russischen Oktoberrevolution feiert Kiew die ukrainische Unabhängigkeit.
  • Unangenehme Details des Umsturzes, wie etwa die Beteiligung an Pogromen, werden bei offiziellen Gedenkveranstaltungen nicht erwähnt.
  • Das Parlament in Kiew beschloss schon 2014, die ukrainische Geschichte stärker zu pflegen und sowjetische Denkmäler zu dezimieren.

Von Florian Hassel, Warschau

Zumindest an einem Ort der Ukraine feierte Wladimir Iljitsch Lenin Wiederauferstehung: Im Dorf Kubej in der Schwarzmeerregion Odessa ließ die Bürgermeisterin einem überlebensgroßen Denkmal des russischen Revolutionsführers knapp 100 Jahre nach der Oktoberrevolution einen frischen Bronzeanstrich verpassen und ein neues Podest bauen.

Ein zweites Denkmal von Lenins Mitrevolutionär Michail Kalinin erfuhr die gleiche Frischzellenkur. Und das, obwohl das Andenken an sowjetische Helden und ihre Symbole in der um Unabhängigkeit und eigene Geschichte bemühten Ukraine verboten ist und beide Denkmale zur Demontage vorgesehen waren.

Städte und Dörfer verloren Namen aus sowjetischer Zeit

Anders als etwa die baltischen Republiken entschloss sich die Ukraine erst Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion zur "De-Kommunisierung". Erst im April 2014, nach der russischen Annexion der Krim und dem Aufflammen des von Moskau inszenierten Separatismus in Donezk und Luhansk, beschloss das Kiewer Parlament vier Gesetze, um ukrainische Geschichte stärker zu pflegen und russische beziehungsweise sowjetische Geschichte zu demontieren.

Und das ist wörtlich gemeint: 2389 Denkmäler aus sowjetischer Zeit wurden abgebaut, darunter 1320 Lenin-Denkmäler. Diese Bilanz zog kürzlich Wladimir Wjatrowitsch, Leiter des staatlichen Instituts für nationales Gedenken in Kiew. Einige Denkmäler sollen von Ende 2017 an im Museum monumentaler Sowjetpropaganda in Kiew zu Hause sein.

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Auch sonst wurde auf- oder umgeräumt. 32 Städte und 955 Dörfer verloren ihre Namen aus sowjetischer Zeit und bekamen neue, ukrainische. Und auf die Frage, wie die Ukraine den Jahrestag der Russischen Oktoberrevolution begeht, gibt es eine einfache Antwort: gar nicht.

Nicht nur aus Sicht Kiews, sondern etwa auch der des Revolutionshistorikers Richard Pipes gab es nicht nur eine russische, sondern viele verschiedene Revolutionen, ausgelöst vom Rücktritt des Zaren im März 1917 und dem folgenden Demokratie- und Unabhängigkeitsstreben.

Die Ukraine begann schon im März mit ihrem Gedenken an die Ukrainische Revolution: Am 17. März 1917 trat in Kiew der zunächst vom ukrainischen Nationalisten Mykhailo Hrushevsky geführte Zentralrat zusammen, der im Juni erst die Autonomie innerhalb des Russischen Reiches ausrief und dann, nach der Oktoberrevolution in Russland, am 22. Januar 1918 eine unabhängige Ukrainische Volksrepublik.

Freilich stand die Unabhängigkeit vielerorts nur auf dem Papier - und war zudem von kurzer Dauer. Während die Polen und Litauer, Tschechen und Slowaken alle eigene Staaten bekamen und dabei von den Siegern des Ersten Weltkrieges unterstützt wurden, beendete Moskau 1921 die ukrainische Unabhängigkeit.

Das lag auch an mangelnder internationaler Unterstützung - ein Umstand, den Ukrainer gern betonen, wenn sie heute mit Konferenzen und Ausstellungen der "Ukrainischen Revolution 1917-1921" gedenken.

Ukrainische Helden statt Oktoberrevolutionäre

Der Hauptgrund aber war ein anderer, wie auch Präsident Petro Poroschenko zugab: die mangelnde Einigkeit der Ukrainer, die zerstritten waren, etwa zwischen nationalistischen Bauern und oft moskaufreundlichen Städtern; zwischen Kommunisten und Anhängern des alten russischen Regimes. Zudem erwiesen sich ukrainische Politiker "als Amateure, als es darum ging, einen Staat aufzubauen und Streitkräfte zu organisieren", fasst der Historiker Serhii Plokhy zusammen.

Ironischerweise waren es rund 450 000 deutsche und österreichische Soldaten, die die einmarschierte Rote Armee vorübergehend aus Kiew und anderswo vertrieben und die ukrainische Unabhängigkeit zumindest auf dem Papier sicherten. Doch mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der deutschen Niederlage zogen Deutsche und Österreicher ab.

Danach fiel es der Roten Armee nicht schwer, die oft nur aus Bauern, Söldnern oder in die Ukraine geflohenen Zarenanhängern der Weißen Armee bestehenden Einheiten nacheinander zu zerschlagen. Von 1921 an wurde die Ukraine für 70 Jahre Teil der Sowjetunion.

Unangenehme Details der Ukrainischen Revolution fallen beim offiziellen ukrainischen Gedenken unter den Tisch: etwa die Beteiligung ukrainischer Einheiten an massenhaften Pogromen, bei denen laut Historiker Plokhy zufolge mindestens 30 000 Juden ermordet wurden.

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Statt der Oktoberrevolution gedachten die Ukrainer am 14. Oktober der "Verteidiger des Vaterlandes". Dabei wurde der ursprünglich auf den 23. Februar fallende Feiertag, der die Rote Armee pries, umgelegt, um nun ukrainischer Helden zu gedenken: Der 14. Oktober gilt als Gründungstag der im Zweiten Weltkrieg auch gegen Moskau kämpfenden Ukrainischen Aufstandsarmee UPA.

Poroschenko erinnerte am 14. Oktober nicht nur an die (ebenfalls an massiven Massaker beteiligten) UPA-Soldaten, sondern dankte auch denjenigen, die die ukrainische Armee heute im Kampf gegen die von Moskau geführten Separatisten in der Ostukraine unterstützen.

Und auch Lenin und Kalinin ging es an den Kragen: Wenige Tage, nachdem Kiewer Medien über die frisch gestrichenen Denkmäler der sowjetischen Revolutionsführer im Dorf Kubej berichtet hatten, rückten dort auf Befehl des Gouverneurs Baukräne an - und entsorgten Lenin und Kalinin samt ihrer neuen Sockel.

© SZ vom 02.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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