Am Mittwoch hat Israel den Jom Hazikaron begangen, den jährlichen Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Opfer des Terrors. Er folgt dem immer gleichen Ablauf: Sirenen ertönen zur Erinnerung an die Toten, die Politiker halten Reden, die Menschen gehen auf die Friedhöfe. Am Abend mündet der Trauertag in ein großes Fest, das dem darauffolgenden Jahrestag der Staatsgründung von 1948 gilt. Der Trauertag und der Jahrestag sind zwei Tage, an denen das Land zusammensteht. Normalerweise. Doch in diesem Jahr sind sie belastet vom aufgeheizten politischen Klima rund um eine Regierung, die ihre Mehrheit verloren hat und ums Überleben kämpft.
An zwei Beispielen wird das deutlich: Kurz vor dem Erinnerungstag hatte eine Gruppe von Hinterbliebenen eine ganzseitige Zeitungsanzeige geschaltet, in der alle Minister aufgefordert wurden, den Gedenkfeiern fernzubleiben. "Wir wollen keine Umarmung von euch", stand da in großen Lettern. Zur Begründung hieß es, diese Regierung werde von "Terrorunterstützern" getragen. Das zielt auf die Beteiligung der arabischen Raam-Partei am bunten Acht-Parteien-Bündnis. Es ist ein Echo auf die Propaganda von weit rechts, und zu hören war dieses Echo am Mittwoch auch, als Israels Premier Naftali Bennett bei der Gedenkfeier am Jerusalemer Herzlberg in Zwischenrufen als "Verräter" geschmäht wurde.
Wie vergiftet die politischen Debatten sind, hatten Bennett und seine Familie schon zuvor erfahren müssen, als sie vorige Woche im Abstand von zwei Tagen zwei Briefe erhielten. Nach Polizeiangaben beinhalteten sie "detaillierte Morddrohungen" und jeweils eine Kugel. Bennett wurde in den Schreiben zum Rücktritt aufgefordert, andernfalls würde seiner Familie Schlimmes drohen.
Die Gräben sind tief in Israel, das nicht nur durch Feinde von außen um seine Stabilität fürchten muss. Die Kämpfe toben auch im Innern, vom nächsten Montag an werden sie wieder auf offener Bühne zu verfolgen sein. Dann kommt die Knesset nach längerer Parlamentspause zurück zur Sommersession, und die Bedingungen haben sich seit der letzten Sitzung grundlegend verändert.
Premier Bennett muss weitere Überläufer fürchten
Es herrscht ein Patt im Parlament, seit sich die Abgeordnete Idit Silman im April abrupt aus Bennets rechter Jamina-Partei verabschiedet und auf die Seite der Opposition geschlagen hat. Die Koalition verfügt nur noch über 60 der 120 Stimmen - zu wenig zum Leben und Gestalten, aber immer noch gerade genug, um nicht gleich durch ein Misstrauensvotum gestürzt zu werden, das 61 Stimmen bräuchte.
Glaubt man den lauten Stimmen aus der Opposition, ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis sich weitere Überläufer aus dem rechten Spektrum der Koalition finden. Medienberichten zufolge wird an vielen Stellen gebohrt, auch die Renegatin Silman kündigt an, es werde schon sehr bald neue Abweichler geben. "Der Zug hat den Bahnhof bereits verlassen", sagt sie. Und der vor knapp einem Jahr aus dem Amt gedrängte frühere Likud-Premier Benjamin Netanjahu schwört seine Anhängerschaft schon auf eine baldige Rückkehr an die Macht an.
Neben den möglichen Rechtsabweichlern hat Premier Bennett noch eine zweite offene Flanke: Die arabische Raam-Partei hat ihre Regierungsbeteiligung "eingefroren", aus Protest gegen das Vorgehen der israelischen Sicherheitskräften gegen Palästinenser bei den jüngsten Unruhen rund um die Al-Aksa-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg.
Raam-Chef Mansour Abbas steht unter starkem Druck aus dem eigenen Lager, und diesen Druck hat der Hamas-Anführer Yahya Sinwar aus dem Gazastreifen noch einmal erhöht, indem er die Beteiligung an einer israelischen Regierung als "unverzeihliches Verbrechen" verurteilte. Abbas hat das kühl gekontert mit dem Hinweis, die Hamas habe ihm gar nichts zu sagen: "Wir glauben, dass Partnerschaft und Toleranz Israelis und Palästinenser dem Frieden näher bringen." Er selbst scheint nach Gesprächen mit Bennett und Außenminister Jair Lapid geneigt zu sein, zur Koalitionsdisziplin zurückzukehren. Ob das aber auch für alle der drei anderen Raam-Abgeordneten gilt, ist keinesfalls sicher.
Die Bürger sind in drei Lager gespalten
Theoretisch könnte sich die Regierung Bennett auch ohne Mehrheit noch mindestens zehn Monate an der Macht halten. Dann aber steht die Verabschiedung des nächsten Staatshaushalts an, für die mindestens 61 Stimmen nötig sind. Israels Öffentlichkeit verfolgt die politischen Kämpfe unterdessen aufgespalten in drei Lager: Einer Umfrage zufolge wünscht sich gut ein Drittel baldige Neuwahlen, ein weiteres Drittel präferiert die Bildung einer neuen Regierung aus der bestehenden Knesset heraus, ein knappes Drittel will die Fortsetzung der bisherigen Koalition.