Er kann's nicht lassen: Benjamin Netanjahu hat in den vergangenen Tagen wieder eifrig telefoniert im Dienst für sein Land. Mit den Chefs der Pharmafirmen Pfizer und Moderna hat er gesprochen wegen neuer Impfstofflieferungen, und danach hat er natürlich gleich das Volk darüber informiert, dass dies dringliche Gespräche waren, um den weiteren Fluss der Vakzine zu sichern für die aus seiner Sicht notwendige dritte Impfdosis. "Dies ist der einzige Weg, um die Bevölkerung zu schützen, Leben zu retten und die Wirtschaft offen zu halten", erklärte er in einer Videobotschaft.
Die Retterpose ist seit jeher seine Lieblingsübung. Das Problem ist nur, dass er seit knapp sechs Wochen nicht mehr Regierungschef ist in Israel, sondern nur noch der "Abgeordnete Bibi Netanjahu", wie es sein Amtsnachfolger Naftali Bennett bei kaum einem Auftritt zu erwähnen vergisst. Netanjahu und die Seinen sprechen vom neuen Premierminister im Gegenzug meist nur als "Naftali", um ihm die Ehre des P-Worts zu verweigern. Das alles wirkt ein wenig kindisch, aber so sind die neuen Fronten in Israels Politik.
Bennett muss sichtbar noch um Autorität ringen, und er hat wahrlich keinen leichten Start: Das Coronavirus ist in seiner Delta-Variante mit einiger Wucht zurückgekehrt nach Israel, und Netanjahu ist in seiner Alpha-Version immer noch da. Als Oppositionsführer macht er der neuen Regierung nach Kräften das Leben schwer. Doch genau damit schweißt er sie zumindest fürs Erste zusammen. Denn es weiß ein jeder in dieser wundersamen Koalition aus acht Parteien, zu der sich rechte Ideologen mit linken Idealisten und arabischen Islamisten zusammengeschlossen haben, dass das Überleben stets am seidenen Faden hängt. Die Mehrheit ist mit 61 von 120 Abgeordneten in der Knesset denkbar knapp.
Die Opposition aus Netanjahus Likud plus einer rechtsextremen Gruppierung und den beiden ultraorthodoxen Parteien hat im Parlament vom ersten Tag an auf eine Art Abnutzungskrieg gesetzt. In schneller Folge werden von Oppositionsseite aus halbgare Gesetzesvorhaben eingebracht, deren Hauptzweck es ist, Gewissenskonflikte und Streit in der heterogenen Koalition zu provozieren. Bei Gesetzentwürfen der Regierung wird dagegen oft nächtelang durchfilibustert, um sie im parlamentarischen Prozedere zu zerreiben.
Der Parlamentssprecher drückt den falschen Knopf
Ein paar schmerzhafte Abstimmungsniederlagen hat die Regierung deshalb im Parlament schon einstecken müssen. So fand sie zum Beispiel keine Mehrheit für die Verlängerung eines Gesetzes, das Palästinensern den Zuzug verweigert, auch wenn sie mit einem israelischen Staatsbürger verheiratet sind. Höchst peinliche Pannen waren obendrein dabei wie die falsche Stimmabgabe des Parlamentssprechers Mickey Levy. Der 70-Jährige hatte nach einer nächtlichen Marathonsitzung entkräftet auf den falschen Knopf gedrückt und damit bei Stimmengleichheit ein Gesetz seiner eigenen Koalitionsregierung zu Fall gebracht.
Trotz vieler Unstimmigkeiten und kleinerer Krisen sind jedoch noch keine tieferen Risse im Koalitionsgefüge zu erkennen. Den Lackmustest wird das Bündnis dann im November zu bestehen haben, wenn der neue Staatshaushalt verabschiedet werden soll. Die Hoffnung ist, dass danach die Angriffe der Opposition erlahmen und sich womöglich sogar die Koalition auf stabilere, größere Füße stellen lässt. Spekuliert wird darauf, dass es die mit Netanjahu verbündeten religiösen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum zurück an die Fleischtöpfe der Regierung ziehen könnte.
Neue Akzente hat die Regierung bislang vor allem in der Außenpolitik gesetzt, die gleich von drei Männern betrieben wird: von Außenminister Jair Lapid, von Regierungschef Bennett und vom ebenfalls neu ins Amt gewählten Präsidenten Isaac Herzog. Letzterer setzte Entspannungssignale durch Telefonate mit Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas und dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Bennett sorgte bei einem zunächst geheim gehaltenen Treffen mit König Abdullah für eine Auffrischung der Beziehungen zu Jordanien. Und Lapid widmete sich bei einer Brüssel-Reise der Klimaverbesserung zu den Europäern.
Die außenpolitische Arbeitsteilung funktioniert bislang bestens. Das Hauptaugenmerk aller Beteiligten liegt jedoch weiterhin auf den USA. Bennett will im August in Washington Präsident Joe Biden besuchen. Dabei dürfte es vorrangig um den Umgang mit Iran und dessen Atomambitionen gehen. Anders als in der Netanjahu-Ära scheint die neue Führung in Jerusalem jedoch daran interessiert zu sein, den Streit darüber konstruktiv zu führen. Fortschritte im Friedensprozess mit den Palästinensern sind kaum zu erwarten. Israels neue Regierung hat dazu keine einheitliche Position und klammert das Thema deshalb weitgehend aus.
Bennett hat seine alte Klientel verprellt
Innen- wie außenpolitisch muss das bunte Regierungsbündnis stets darauf achten, die Balance zu halten. Verantwortlich sind dafür vor allem der rechte Regierungschef Bennett und der liberale Außenminister Lapid. Am längerfristigen Gelingen sind beide interessiert: Lapid, weil er Bennett in der vereinbarten Rotation in zwei Jahren als Premier ablösen will. Bennett, weil er seine Zeit an der Spitze nutzen muss, um sich zu profilieren und neu zu positionieren. Seine alte Siedlerklientel hat er verprellt mit dem Eintritt in die Koalition. Nun muss er sich neu erfinden als Mann der rechten Mitte.
Die fortgesetzte Corona-Krise gibt ihm immerhin die Möglichkeit, seine Managerqualitäten unter Beweis zu stellen. Er scheut sich nicht vor Entscheidungen wie der Wiedereinführung der Maskenpflicht und auch nicht vor harten Worten gegen all jene, die sich der Impfung verweigern. Vor allem aber wirbt er um Vertrauen. Die Israelis sollen lernen, mit dem Virus zu leben. Und die Regierung muss dabei lernen zu überleben.