Israel:Großdemo gegen Umbau der Justiz

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Sie sehen die Fundamente der Demokratie in Gefahr: Aus dem ganzen Land reisten Demonstranten am Montag nach Jerusalem. (Foto: Nir Alon/Imago/Zuma Wire)

Drinnen im Parlament in Jerusalem bringt die Regierungsmehrheit die umstrittene Justizreform auf den Weg. Draußen demonstrieren etwa hunderttausend Menschen. Die Opposition warnt vor einer "dunklen Diktatur"

Von Peter Münch, Jerusalem

Was sie wohl hören da drin, unter dem mächtigen Flachdach, in den heiligen Hallen der Demokratie? Hören sie den Lärm, spüren sie die Wut? Dort drüben in der Knesset, dem israelischen Parlament, haben sich am Montag die Abgeordneten des Rechtsausschusses zusammengefunden, um die seit Wochen umkämpfte Justizreform auf den legislativen Weg zu Bringen. Und hier draußen, auf den Straßen und Wiesen und erdigen Brachflächen des Jerusalemer Regierungsviertels, haben sich die Demonstranten versammelt, um mit aller Wucht gegen diese Reform zu demonstrieren. "De-mo-kratia" skandieren sie. Sie sind viele, und sie sind laut.

Aus dem ganzen Land haben sie sich am Montag auf den Weg gemacht. Sie kommen mit Bussen aus Beerschewa im Süden, mit dem Zug aus dem Zentrum um Tel Aviv oder mit einem Autokorso aus Kirjat Schmona im hohen Norden. Auf bis zu 100 000 Menschen wird die Menge geschätzt. "Aber für jeden von uns, der hier es, gibt es vier oder fünf, die auch kommen wollten, aber nicht konnten", sagt Schaul.

"Schande, Schande": Ein tiefer Riss geht mitten durchs Volk

Er ist ein Mann in den mittleren Jahren, Hightech-Branche, aus Tel Aviv ist er schon am frühen Morgen angereist. "Da war der Stau noch nicht so schlimm", sagt er. Wie viele andere, die man hier trifft, will er nur seinen Vornamen nennen - und auch das hat wohl etwas mit dem Gefühl der Verunsicherung zu tun, das die Menschen seit Wochen schon hinaustreibt zum Protest gegen die Pläne der neuen rechts-religiösen Regierung.

"In einer solchen Situation waren wir noch nie", sagt Schaul, und in Israel haben sie gewiss schon viel erlebt an Kriegen, Krisen und Konflikten. Doch meist kam die Bedrohung von außen, und sie haben sie das zusammen durchgestanden. Nun aber tobt ein Streit im Innern, ein tiefer Riss geht mitten durchs Volk, und für die, die heute hier stehen - mit Trommeln und Trillerpfeifen, mit Protestschildern und vor allem: mit Abertausenden an blau-weißen israelischen Fahnen - geht es ums Ganze: um die Demokratie, die sie durch die geplante Justizreform ausgehöhlt sehen. Um die Identität ihres Landes, das vor 75 Jahren mit höchsten Ansprüchen gegründet wurde.

Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen, und so wird dieser Protesttag von einem Aufruf zum landesweiten Streik begleitet. Der mächtige Gewerkschaftsbund Histadrut ist zwar zurückgeschreckt vor einer politischen Konfrontation mit der Regierung. Aber viele jener Hightech-Firmen, die für Israels Wirtschaftswunder stehen, haben sich angeschlossen. Die Tel Aviver Stadtverwaltung, die sich als liberaler Gegenentwurf zur Jerusalemer Regierung versteht, hat ihren Leuten freigegeben zum Protest. Eltern haben ihre Kinder einfach mitgenommen, damit sie an diesem Tag etwas für Leben lernen, statt in die Schule zu gehen. Und wie bunt diese Bewegung ist, das sieht man zum Beispiel auch an diesem alten, leicht gebeugten Ultra-Orthodoxen, der mit einem Regenbogenfähnchen der LGBTQ-Bewegung durch die Menge schnürt.

Der Präsident warnt vor einem "verfassungsrechtlichen Zusammenbruch"

Das Land ist aufgewühlt, der Streit lässt niemanden kalt. Kurz vor der Großdemonstration hatte Präsident Isaac Herzog noch einen Vermittlungsversuch unternommen. Er wählte dafür, ungewöhnlich genug, das Mittel einer Fernsehansprache zur besten Sendezeit am Sonntagabend. Er warnte vor einem "sozialen und verfassungsrechtlichen Zusammenbruch", und er forderte die Streitpartei zum Dialog auf und zu einer Lösung im Konsens.

Am Tag danach war jedoch erst einmal weiter zu beobachten, wie da gerade zwei Züge aufeinander zu rasen. In der Knesset tagt der Rechtsausschuss unter großem Tumult. "Schande, Schande" rufen die Abgeordneten der Opposition, bevor einige von ihnen von Ordnern aus dem Saal gezerrt werden. Am Ende gibt die Regierungsmehrheit den erste Teil der Justizreform frei zur Ersten Lesung im Parlament.

Draußen steht derweil Oppositionsführer Jair Lapid vor den Demonstranten und warnt vor einer "dunklen Diktatur". Die Wahl im November hat er verloren gegen das Bündnis um den Comeback-Premier Benjamin Netanjahu. Nun ruft er: "Wir bleiben nicht still, wir sind nicht nur hier, um Steuern zu zahlen und unsere Kinder zur Armee zu schicken." Weil er sich durchaus auch aufs Pathos versteht, stärkt er die Motivation der Massen mit dem Satz: "Eines Tages wird jeder, der heute hier ist, seinen Kindern sagen können: Ich war da, als der israelische Staat mich am dringendsten brauchte."

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Auch die meisten anderen Führer der Oppositionsparteien ergreifen das Wort. Viel ist von "Staatsstreich" die Rede und von "Widerstand". Der rechtskonservative Gideon Saar, der bis zum Regierungswechsel noch Justizminister war, ruft aus: "Das Volk wird die Regierung besiegen." Doch diesen Optimismus will selbst hier an diesem Tag nicht jeder teilen.

Ganz nah am Zaun, der die Demonstranten auf Abstand zur Knesset hält, stehen Tal und Schir, ein junges Paar aus Tel Aviv. Auch sie wollen nur die Vornamen nennen. "Wir sind so hilflos", sagt Schir, "Demonstrieren ist doch das einzige, was wir tun können." Sie haben ein Schild mitgebracht zum Protest. Zu sehen ist darauf die schlafende Cinderella, darunter der Aufruf: "Wacht auf!"

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