"Jerusalem ist unser!" Dutzende Male schallt es über den Al-Manara-Platz in Ramallah im Westjordanland. Hunderte strömen auf den Platz. Die Redner, die auf der Bühne nacheinander zur wachsenden Menge sprechen, verwenden oft das Wort Verrat: von den anderen arabischen Staaten fühle man sich im Stich gelassen, von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nicht vertreten.
Eine schwache Rede - das ist hier der Tenor, wenn die Sprache auf die Reaktion von Abbas auf die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump kommt, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Abbas hatte den USA vorgeworfen, die Friedensbemühungen in Nahost vorsätzlich zu untergraben und betont, die Anerkennung werde die Realitäten nicht ändern. Er hatte aber nicht mit einem Aufstand der Palästinenser gegen Israel gedroht.
Ganz anders die radikalislamische Hamas, die am Donnerstag zu einer neuen, zu einer Dritten Intifada aufruft. Die Anerkennung durch den US-Präsidenten komme einer "Kriegserklärung" gegen die Palästinenser gleich, sagt Hamas-Chef Ismail Hanija im Gazastreifen. Das Palästinensergebiet steht unter Kontrolle der radikalislamistischen Organisation.
Nahostkonflikt:"Der israelische Staat raubt ihnen ihre Identität"
Die israelische Autorin Lizzie Doron lebt in Tel Aviv und Berlin - aber sie kennt die bedrückende Realität der Palästinenser im Ostteil der Stadt.
"Niemand weiß, was jetzt geschieht", sagt Mustafa Barghuthi, Generalsekretär der Nationalinitiative von Palästina, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung in Ramallah. Abbas habe mit seiner schwachen Reaktion 25 Jahre Kampf zunichtegemacht. Barghuthi fordert US-Präsident Donald Trump auf, die Jerusalem-Entscheidung zurückzunehmen. "Sonst stehen 2,6 Milliarden Muslime auf." Während ein orthodoxer Priester spricht, werden in Ramallah vor der Bühne von Vermummten drei US-Fahnen verbrannt.
Am nahegelegenen Checkpoint Beit El bei El-Birah brennen Autoreifen an den Barrikaden; es fallen erste Schüsse. Israelische Soldaten gehen gegen palästinensische Jugendliche vor, die mit Steinen werfen. Krankenwagen verlassen den Ort mit Blaulicht. Auch aus Hebron und Bethlehem werden Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischer Armee gemeldet. Auch am wichtigsten Übergang zwischen Israel und Ramallah, dem Checkpoint Kalandia, brennen Autoreifen, es wird geschossen, israelische Soldaten setzen Tränengas ein. Nach Angaben von Sanitätern sollen mehrere Palästinenser verletzt worden sein.
"Wir sind betrogen worden", meint der Straßenhändler Mohammed Khatib in der Nähe des Checkpoints. "Aber deshalb schicke ich meine Kinder nicht in den Krieg." Rettungsfahrer Ahmed Amireh, der am Vormittag auf die Genehmigung zu einer Fahrt nach Israel wartet, weiß nicht, was in den kommenden Tagen geschieht: "Niemand kann eine Intifada befehlen. Das passiert oder auch nicht."
Nahostkonflikt:Wie die arabische Welt reagiert
Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate üben bislang nur zurückhaltend Kritik an Israel und den USA. Denn alle haben einen gemeinsamen Feind: Iran. Die schiitische Macht könnte die Lage nun für sich nutzen.
US-Präsident Trump hatte am Mittwoch verkündet, dass die USA Jerusalem als Hauptstadt anerkennen würden. Hamas-Chef Hanija sprach in seiner Reaktion am Donnerstag von einem "entscheidenden Wendepunkt", der alle arabischen und islamisch geprägten Staaten weltweit zum Handeln bewegen sollte. Hanija forderte die arabischen Staaten auf, die Beziehungen zu den USA abzubrechen - egal welche Beweggründe sie davon abhalten sollten. "Es wird keinen Friedensvermittler für uns Palästinenser mehr geben", so Hanija. Es sei für die Palästinenser an der Zeit, an einem Strang zu ziehen: "Wir sitzen alle in einem Boot. Wenn Jerusalem wegfällt, dann haben die Palästinenser keine Würde mehr."
Gleich zu Beginn seiner Rede erinnerte Hanija an den 8. Dezember 1987, als die erste Intifada begann. Sie trägt den Beinamen "Krieg der Steine", da viele junge Palästinenser vor allem mit Steinen gegen die bewaffnete israelische Besatzungsmacht vorgingen. Etwa 2200 Palästinenser und 200 Israelis verloren bis zu ihrem Ende im Jahr 1993 ihr Leben.
Die Zweite Intifada, auch bekannt als Al-Aqsa-Intifada, wurde im Jahr 2000 ausgelöst, als der israelische Politiker Ariel Scharon den auch für Muslime heiligen Tempelberg in Jerusalem besuchte. Bis zu ihrem Ende im Jahr 2005 wurden mehr als 3500 Palästinenser getötet, mehr als 1000 Israelis kamen bei Anschlägen von Palästinensern ums Leben. Morgen, am 8. Dezember 2017, werde es nun zur Dritten Intifada kommen, sagte Hanija. Er rief die Palästinenser zu einem "Freitag des Zorns" auf.
Zu harschen Reaktionen auf Trumps Enscheidung kam es auch im Irak. Das spirituelle Oberhaupt der dortigen Schiiten, Großayatollah Ali al-Sistani, sagte, der US-Präsident habe "die Gefühle von Millionen Arabern und Muslimen verletzt". Der einflussreiche Geistliche und Politiker Muktada al-Sadr forderte Saudi-Arabien auf, seine Kampfflugzeuge statt in Jemen zur "Befreiung Jerusalems" einzusetzen. Eine schiitische Miliz im Irak drohte mit Angriffen auf die US-Truppen im Land.
Israel lobte hingegen Trumps Entscheidung, Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach von einer "historischen Erklärung" des US-Präsidenten. Er zeigte sich zuversichtlich, dass andere Staaten dem Vorbild der USA folgen könnten. "Wir stehen bereits in Kontakt mit anderen Ländern, die eine ähnliche Anerkennung vollziehen werden", sagte der israelische Regierungschef der Haaretz zufolge.
Der Status Jerusalems ist einer der fundamentalen Streitpunkte in dem seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Israel beansprucht ganz Jerusalem als seine unteilbare Hauptstadt, was international nicht anerkannt wird. Die Palästinenser sehen in Ost-Jerusalem ihre künftige Hauptstadt.
Generalstreik und Protestmärsche in den Palästinensergebieten
Schon am Morgen hatten die Palästinenser aus Protest gegen Trumps Entscheidung einen Generalstreik begonnen. Im Gazastreifen und im Westjordanland sollen öffentliche Einrichtungen, Geschäfte, Schulen und Banken geschlossen bleiben. In Ramallah und Ost-Jerusalem wird der Aufruf zum Generalstreik weitgehend eingehalten.
In Ramallah und Jenin im Westjordanland sollen im Laufe des Tages Protestmärsche starten. Sie sollen bis nach Jerusalem führen. Am Mittwochabend war es im Gazastreifen und Westjordanland bereits zu ersten Protesten gekommen. In Gaza verbrannten Demonstranten Bilder von Trump, US-Flaggen und Autoreifen.
Die israelische Armee beschloss aufgrund der neuen Spannungen, ihre Präsenz im Westjordanland zu verstärken. Mehrere zusätzliche Bataillone sollen dort der Haaretz zufolge stationiert werden. Weitere Kräfte werden in Alarmbereitschaft versetzt.
Mit Material der Agenturen AFP, dpa und Reuters