Westjordanland:Anschlag in Tel Aviv soll Reaktion auf Offensive Israels in Dschenin sein

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Israelische Sicherheits- und Rettungskräfte inspizieren das Fahrzeug, mit dem ein junger Palästinenser am Dienstag in Tel Aviv in eine Menschenmenge gefahren ist. (Foto: JACK GUEZ/AFP)

Luftangriffe und Gefechte am Boden: Die israelische Armee setzt ihre Großoffensive in Dschenin weiter fort, in Tel Aviv fährt ein Palästinenser mit einem Auto in eine Menschenmenge. Die Hamas reklamiert den Anschlag für sich.

Inmitten der israelischen Militäroffensive im Westjordanland hat ein Anschlag in Tel Aviv Furcht vor einer weiteren Eskalation der Gewalt in dem Konflikt geschürt. Ein Palästinenser habe mit einem Auto erst Passanten gerammt und dann auch einige mit einem Messer attackiert, teilte die Polizei am Dienstag mit und sprach dabei von Terrorismus. Acht Menschen seien verletzt worden.

Bei dem Täter handele es sich um einen 20-Jährigen aus dem Westjordanland. Er sei von einem bewaffneten Zivilisten erschossen worden. Die palästinensische Hamas reklamierte den Anschlag für sich. Der Angreifer gehöre zur Hamas und habe Vergeltung für den seit Montag andauernden Einsatz des israelischen Militärs in Dschenin üben wollen, teilte die im Gazastreifen herrschende Gruppe mit.

Die israelische Offensive in Dschenin dauert an. In der Nacht zum Dienstag wurden die Angriffe fortgesetzt. Mindestens elf Menschen wurden getötet, 100 weitere verletzt.

Die Gruppe Islamischer Dschihad bezeichnete vier der bei der israelischen Offensive Getöteten als ihre Kämpfer, die Hamas bekannte sich zu einem fünften. Ein Vertreter des Islamischen Dschihad bezeichnete den Anschlag in Tel Aviv als eine erste "Reaktion des Widerstands auf die Geschehnisse in Dschenin".

Die israelische Armee war in der Nacht zum Montag in die palästinensische Stadt Dschenin eingerückt und hatte damit ihre erste Großoffensive seit etwa 20 Jahren begonnen. Nach eigenen Angaben beschlagnahmte sie Waffen und Sprengstoff und nahm mehrere Verdächtige fest. Die Vereinten Nationen zeigten sich "alarmiert" über die großangelegte Militäroffensive in der Stadt; vor allem über Luftangriffe auf "dichtbesiedelte Wohngebiete". Dies sei "inakzeptabel", sagte ein Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres. Er rief alle Parteien dazu auf, sich an internationales Recht zu halten. WHO-Sprecher Christian Lindmeier kritisierte, dass die israelische Armee Krankenwagen zeitweise daran gehindert hätte, Verletzte im Flüchtlingscamp zu erreichen, damit diese versorgt werden können.

Ende der Offensive in Aussicht

Israel teilte am Dienstagnachmittag mit, dass die Offensive bald beendet sein könnte. Man habe die gesetzten Ziele fast erreicht. Die dichtbesiedelte Stadt und das dazugehörende Flüchtlingslager mit etwa 17 000 Bewohnern gelten als Hochburg militanter Palästinenser. Die militanten Gruppierungen in der Stadt sollen vor allem von Iran finanziert werden, einem Erzfeind des Staates Israel. "In den vergangenen Monaten ist Dschenin zu einem Rückzugsort für Terrorismus geworden, von dem aus heimtückische Attacken auf israelische Männer, Frauen und Kinder verübt wurden", sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einem Auftritt am Montagabend. Ziel sei es, all jene auszuschalten, "die unser Land vernichten wollen".

Im Westjordanland und in Ost-Jerusalem blieben am Dienstag viele Geschäfte geschlossen. Aus Protest gegen die Gewalt und den Militäreinsatz hatten mehrere Palästinenserorganisationen zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen. Auch Kundgebungen waren geplant. Palästinensische Medien hatten am Montagabend gemeldet, die israelische Armee habe angeordnet, dass Palästinenser das Flüchtlingslager in Dschenin verlassen sollten. Aufnahmen im Netz zeigten, dass viele Menschen teilweise mit erhobenen Händen aus ihren Häusern strömten. Israelischen Medienberichten zufolge bestritten israelische Sicherheitsbeamte hingegen, dass es einen Befehl zur Evakuierung gegeben habe. Demnach flüchteten die Menschen zu Tausenden vor den Kämpfen.

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Palästinensische Offizielle sagten am Dienstagmorgen der Nachrichtenagentur AFP, dass etwa dreitausend Menschen das Camp bereits verlassen hätten. Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium ist die Lage für die Einwohner Dschenins kritisch, da die Strom- und Wasserversorgung beschädigt wurde.

In dem Lager westlich des Stadtzentrums leben vor allem Palästinenser, die während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 aus Dörfern und Städten geflohen sind, die heute in Israel liegen. Ihre Kinder und Enkel wurden bereits im Flüchtlingscamp geboren. Ein mögliches Recht auf Rückkehr dieser Flüchtlinge in ihre Häuser und auf ihr Land ist eines der großen ungelösten Probleme des Nahostkonflikts.

Menschen laufen am 4. Juli durch eine Straße im Flüchtlingslager von Dschenin. (Foto: RONALDO SCHEMIDT/AFP)

Abbas kappt die Kommunikation - zumindest vorübergehend

Die Palästinensische Autonomiebehörde bekräftigte nach einem Treffen ihrer Führungsriege am Montagabend, dass es mit Israel in Sicherheitsfragen keine Zusammenarbeit mehr geben werde. Ähnliche Ankündigungen hatte die Autonomiebehörde schon bei früheren Gelegenheiten gemacht - sie wurden allerdings faktisch nicht umgesetzt, schreibt die Nachrichtenagentur dpa. Beide Seiten tauschen nachrichtendienstliche Informationen aus, um Terroranschläge zu verhindern und größere Einsätze in allein von der Autonomiebehörde kontrollierten Zonen zu koordinieren. Zudem soll verhindert werden, dass militante Gruppen die Oberhand in diesem Gebiet erlangen.

Die Sicherheitslage in Israel und in den Palästinensischen Gebieten ist seit Langem angespannt, zuletzt nahm die Gewalt aber nochmals zu. Seit Benjamin Netanjahus neue, teilweise rechtsextreme Regierung im Amt ist, hat sie die Rhetorik gegenüber der palästinensischen Seite verschärft und zeigt wenig Interesse, den Konflikt zu entschärfen - im Gegenteil. Auch den Siedlungsbau im Westjordanland will sie massiv ausweiten.

Während Palästinenser immer wieder Anschläge auf Siedlungen oder israelische Soldaten verübten, griffen radikale israelische Siedler zuletzt vermehrt palästinensische Dörfer an und setzten Häuser und Ladengeschäfte in Brand. Seit Beginn des Jahres kamen mehr als zwei Dutzend Menschen bei Anschlägen von Palästinensern ums Leben. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als 140 Palästinenser bei gewaltsamen Zusammenstößen, israelischen Militäreinsätzen oder nach eigenen Anschlägen getötet.

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