Eskalation in Nahost:Dschenin wird zum Kriegsgebiet

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Das israelische Militär hat einen Angriff auf die Stadt Dschenin im Westjordanland gestartet. (Foto: Majdi Mohammed/AP)

Mit massivem Militäreinsatz aus der Luft und am Boden will Israels Armee eine Hochburg palästinensischer Kämpfer unter Kontrolle bringen. Wie lange der Einsatz dauern wird, ist offen. Wie schwer er wird, zeigt sich schon in den ersten Stunden.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Der erste Angriff aus der Luft kam um ein Uhr in der Nacht, danach rückten am Montag die Soldaten von allen Seiten ins Flüchtlingslager von Dschenin ein. In einer groß angelegten Militäraktion will Israels Armee nun nach eigenen Angaben die "terroristische Infrastruktur" in dieser Hochburg militanter Palästinenser zerschlagen. Wie lange dieser Einsatz dauert, ist noch offen. Wie schwer er wird, zeigte sich schon in den ersten Stunden: Dschenin gleicht einem Kriegsgebiet. Die vorläufige Bilanz: Mindestens acht tote Palästinenser und mehr als 50 Verletzte.

In israelischen Medien ist bereits vom größten Militäreinsatz im Westjordanland seit den Jahren der Zweiten Intifada von 2000 bis 2005 die Rede. Der erste Luftschlag galt nach Armeeangaben einem gemeinsamen Kommandozentrum verschiedener bewaffneter Gruppen. Es folgten zahlreiche weitere Angriffe mit bewaffneten Drohnen. Am Boden sollen Berichten zufolge rund 1000 Soldaten im Einsatz sein. Fotos aus Dschenin zeigen aufgerissene Straßen, in denen Bulldozer offenbar nach versteckten Sprengsätzen gesucht hatten.

In diesem Jahr sind mehr als 140 Palästinenser und 24 Israelis ums Leben gekommen

Der Einsatz erfolgt zu einer Zeit höchster Anspannung mit zahlreichen Terrorattacken auf Israelis sowie regelmäßigen Razzien der Armee und zunehmender Siedlergewalt gegen Palästinenser. Allein in diesem Jahr sind dabei schon mehr als 140 Palästinenser und 24 Israelis ums Leben gekommen. Besonders aus der ganz rechten Ecke der rechts-religiösen israelischen Regierung, von Finanzminister Bezalel Smotrich und Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, war in den vergangenen Wochen lautstark eine massive Militäraktion eingefordert worden.

Der jetzige Einsatz ist einem Armeesprecher zufolge schon vor rund zehn Tagen von Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant genehmigt worden. Man habe jedoch erst noch das muslimische Opferfest abwarten wollen, das am Samstag zu Ende gegangen war. Laut der Zeitung Haaretz war die US-Regierung in Washington vorab informiert worden. Gallant sagte am Montag, man sei "auf jedes Szenario vorbereitet". Nach einer ersten Lagebewertung erklärte er, alles laufe "wie geplant". Man habe den Terrorgruppen in Dschenin bereits in den ersten Stunden einen "schweren Schlag" versetzt.

Über Ausmaß und Ziel des Einsatzes blieb jedoch zunächst einiges im Unklaren. Ein Brigadegeneral sprach in einem Schreiben an Kommandeure von der Operation "Heim und Garten". Das soll offenkundig ein gründliches Aufräumen signalisieren. Militäraktionen bekommen auch nur dann einen eigenen Namen, wenn ein längeres Vorgehen geplant ist. Im Gegensatz dazu betonte jedoch ein Armeesprecher in einer Schaltkonferenz mit Journalisten, dass der Einsatz nicht unter einem bestimmten Titel laufe. Er sei "Teil einer Serie von Aktionen, die wir ausführen", erklärte er. "Wir sind nicht gekommen, um das Flüchtlingslager zu besetzen." Dies sei auch keine Operation gegen die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah, sondern allein gegen Terroristen.

Die palästinensischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über die Milizen verloren

Die Schwäche der palästinensischen Führung unter Präsident Mahmud Abbas gilt als einer der Gründe für die wachsende Unruhe im Westjordanland. Die palästinensischen Sicherheitskräfte haben vor allem in nördlichen Städten wie Dschenin und Nablus längst die Kontrolle verloren über dort agierende Milizen. Es ist ein Vakuum entstanden, in das nach israelischer Einschätzung Terrorgruppen wie die Hamas und der Islamische Dschihad eindringen. Dahinter wird als Pate und Finanzier das iranische Regime ausgemacht.

Einigkeit zeigten die palästinensischen Organisationen nun bei der Verurteilung des israelischen Vorgehens. Ein Sprecher von Präsident Abbas sprach von einem "neuen Kriegsverbrechen in Dschenin". Er forderte die internationale Gemeinschaft auf, "das Schweigen zu brechen und ernsthafte Schritte zu unternehmen, um Israel zu zwingen, die Aggression zu beenden". Abbas setzte am Montagabend den Kontakt und die Sicherheitskoordination mit Israel aus. Hamas-Chef Ismail Hanija rief die Palästinenser zum Kampf um Dschenin auf. Ein Sprecher des Islamischen Dschihad drohte mit Vergeltungsmaßnahmen. Vorsorglich kündigte die Armee eine Verstärkung der Raketenabwehr im Süden des Landes an der Grenze zum Gazastreifen an.

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In Israel bekam die Führung für die Militäraktion breite Unterstützung von der Opposition. "Wir stehen alle hinter euch", twitterte Oppositionsführer Jair Lapid mit Blick auf die beteiligten Truppen. "Das ist eine gerechtfertigte Aktion gegen terroristische Infrastruktur". Der frühere Armeechef und Verteidigungsminister Benny Gantz, der nun ebenfalls als Widersacher der rechten Regierung im Parlament auftritt, erklärte: "Wir sind alle eine Front gegen den Terror."

Innenpolitisch kommt der Militäreinsatz in Dschenin dennoch zu einem heiklen Zeitpunkt. Denn der Protest gegen die von der Regierung geplante Justizreform nimmt gerade wieder an Schärfe zu. Der Montag war von den Protestführern zu einem Aktionstag ausgerufen worden mit Blockaden zum Beispiel am Hafen von Haifa und am internationalen Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv. Die Nachrichten aus Dschenin lenkten dann jedoch einen Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit auf das militärische Geschehen im Westjordanland.

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