Das Politische Buch:Menschen mit zwei Heimatländern

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Starke Gemeinschaft: Solidaritätskundgebung in Berlin für die Proteste in Iran Ende Oktober. (Foto: Mike Schmidt/Imago)

Alexander Clarkson verspricht einen anderen Blick auf die Einwanderungsgesellschaft. Ein aufklärerisches Projekt - doch das Wissen, das in diesem Buch steckt, kann sich nicht richtig entfalten.

Von Tanjev Schultz

In Deutschland existieren zahlreiche Diaspora-Gemeinschaften, von denen die Öffentlichkeit erstaunlich wenig Notiz nimmt. So erging es beispielsweise vielen Ukrainerinnen und Ukrainern, die schon vor dem russischen Überfall in deutschen Städten lebten und ohne großen Widerhall vor Putin warnten. Alexander Clarkson, Historiker am King's College in London, untersucht die Diasporageschichten, die Deutschland mitgeprägt und verändert haben, auch aus biografischer Vertrautheit. Geboren in Kanada, wuchs er in Hannover auf. Sein Vater ist Brite, die Mutter Ukrainerin. Clarkson studierte in Oxford und lebte in Berlin. Sein Buch beleuchtet außer der ukrainischen Diaspora die türkischen und kurdischen, die iranischen und die verschiedenen arabischen und aus dem früheren Jugoslawien hervorgegangenen Gemeinschaften.

Dass Deutschland eine Nation von Einwanderern ist, die oft nur in schematischen Integrationsdebatten zum Thema werden, macht das Buch zu einem aufklärerischen Projekt. Souverän zeichnet der Autor die langen historischen Linien und zeigt dann beispielsweise die Verankerung iranischer Studierender in deutschen Uni-Milieus oder die Politisierung türkischer und kurdischer Gruppen in Reaktion auf die Repression in der Türkei. Leider bleibt das Buch jedoch über weite Strecken eher abstrakt und konzentriert sich auf die Darstellung politischer Ereignisse und Entwicklungen. Lediglich die kurzen Anekdoten aus der eigenen Biografie, mit denen Clarkson jedes Kapitel beginnt, führen direkt hinein ins Leben und in den Alltag, in dem Identitäten gebildet und ausgehandelt werden.

Clarkson betont die Vielfalt innerhalb der Diasporagemeinschaften, doch über deren Organisation und Kommunikation, über konkrete Protagonisten und Situationen erzählt das Buch zu wenig. Was macht eine Diaspora-Identität überhaupt aus? Der Autor nennt drei Faktoren: Selbstidentifikation, Bezüge zu einem Herkunftsort, transnationale Verbindungen. Nun wäre zu erwarten, dass er diesen Faktoren systematisch für die jeweilige Gemeinschaft nachspürt. Und dass er für seine zentrale Frage, "wie die Diasporadynamiken die deutsche Gesellschaft verändert haben", Dimensionen und Indikatoren entwickelt, die zu einem methodisch abgesicherten Vergleich führen könnten. Das alles geschieht jedoch nicht oder allenfalls implizit.

Viele Sätze muss man erst entschlüsseln

So spannend das Kapitel über die Ukraine ist oder sein könnte, in dem Clarkson unter anderem die Reaktionen auf die Katastrophe von Tschernobyl beschreibt, so schleppend ist der Schreibstil. Manches mag ein Problem der Übersetzung aus dem Englischen sein, viele Sätze und Bezüge sind jedenfalls nebulös. Ein Beispiel: "Als sich die Unabhängigkeit der Ukraine von einer weit entfernten Zukunftsfrage zu einer sehr realen Möglichkeit im Hier und Jetzt entwickelte, kam es zu einer zunehmenden Verschmelzung der inneren Dynamik der ukrainischen Politik mit der dominanten Weltsicht der Diaspora. In solch fließenden Kontexten wurde durch die sozialen Interaktionen im Zusammenhang mit dem Umweltaktivismus (...) immer klarer, wie schnell sich die gesamte kulturelle und politische Landschaft der Ukraine nun in eine neue Richtung entwickelte." Natürlich lässt sich das irgendwie verstehen, schön ist es aber nicht - und wer genauer darüber nachdenkt, wird es erstaunlich finden, wie eine innere Dynamik mit einer Weltsicht zunehmend verschmelzen kann.

Alexander Clarkson: Die Macht der Diaspora. Die unbekannte Geschichte der Emigranten in Deutschland seit 1945. Aus dem Englischen von Michael Adrian und Heide Lutosch. Propyläen-Verlag, Berlin 2022. 426 Seiten, 28 Euro. E-Book: 23,99 Euro. (Foto: Ulstein)

Ähnlich Wunderliches geschieht auf vielen Seiten dieses Buches. Clarkson schreibt, dass jede neue Generation in Deutschland und Iran auf eine in ihren Augen lange Geschichte als Kulturen mit globalem Einfluss zurückblicke - und fährt fort: "Wie solche historischen Narrative auch die Wahrnehmung der Gegenwart bestimmen können, ist zu einer prägenden Dynamik für den Weg geworden, auf dem sich die iranische Diaspora in Deutschland integriert hat." Wer nicht längst eingelullt ist, darf fragen, was hier wieder los ist: Das Wie, die Wahrnehmung, die Dynamik, der Weg - die Bezüge erschließen sich nur durch hermeneutische Barmherzigkeit.

Plausible Diagnose, fehlende Belege

Viele Diagnosen klingen plausibel, teilweise fehlen die Belege. Wer hat wann und wie welche Narrative verbreitet? Was wurde und wird in den Diaspora-Gemeinschaften geredet, geschrieben und getan? Zu selten nennt der Autor konkrete Menschen und Gruppen oder zitiert aus einem Flugblatt, einer Versammlung oder der Erinnerung von Personen.

Das umfangreiche Wissen, das in diesem Buch steckt, kann sich nicht richtig entfalten. Sogar ein Leser, der offen ist fürs Abstrakte, findet am meisten Gefallen an Clarksons pointierten, teilweise witzigen persönlichen Beobachtungen. Diese füllen nur wenige Seiten, der Rest liest sich leider zäh.

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