Wurde in Deutschland zuletzt versucht, über Fragen von Migration, Integration oder Rassismus zu sprechen, verlor sich die Debatte schnell in einem unversöhnlichen Gegenüber der verschiedenen Lager. Um in den Begrifflichkeiten zu bleiben, die dann gerne bedient werden: woke (das neue Schimpfwort der Konservativen) gegen den alten weißen Mann (das schon etablierte Schimpfwort der Linken). Mitten hinein in diese von Entrüstung durchsetzte, aufgeheizte Diskussionskultur fällt wie ein Segen das neue Buch von Musa Deli: "Zusammenwachsen. Die Herausforderungen der Integration".
Schonungslos ehrlich reicht es beiden Seiten die Hand, versucht, eine Brücke zu bauen, ohne Schuld zuzuschreiben oder Unschuld vorauszusetzen. Es verfolgt keine Ideologie, lässt sich in keinem Links-rechts-Spektrum verorten. Es will alle ansprechen und verwendet doch keinen Genderstern. In all der Aufregung, die beizeiten in Deutschland herrscht, kommt dieses Buch angenehm unaufgeregt und sachlich daher und zeigt, wie es jenseits der Empörungskultur auch gehen kann.
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Jenseits der Empörungskultur
Der Sozialpsychologe kennt aus eigener Erfahrung sowie aus seiner Arbeit als Leiter des Kölner Gesundheitszentrums für Migrantinnen und Migranten die Herausforderungen von in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationserfahrung von der ersten bis zur dritten Generation sehr genau und richtet in "Zusammenwachsen" sein Augenmerk vor allem auf die Deutschtürken. Er erzählt ihre Geschichten, die von psychischen Problemen, von Rassismuserfahrungen, von verwehrten Bildungschancen, von fehlender Sprache und fehlender Integration handeln. Und indem er sie am Beispiel von Menschen erzählt, werden die bisher nur von außen betrachteten Verhaltensweisen verständlich und nachvollziehbar.
Die Tragik hinter den Protzautos
Das Erste, was Deli dabei macht, ist so einfach wie raffiniert: Er gesteht die Phänomene, die die eine Seite zu oft negiert und die andere Seite zu oft missbraucht und die doch jeder irgendwie kennt, einfach zu: Sei es das alte Pärchen mit Migrationshintergrund, das auch nach Jahrzehnten kein Deutsch spricht; die junge Türkin, die als Mutter und Hausfrau kaum Zugang zur hiesigen Gesellschaft findet; Sympathiebekundungen für den türkischen Staatschef Erdoğan oder Limousinen, die das Schaulaufen auf den Partymeilen der Großstädte dominieren. Im selben Atemzug aber nimmt er diese Verhaltensweisen, die bislang als Klischees und Angriffsflächen dienten, und rückt sie gerade, indem er die Ursachen dahinter aufzeigt und die Tragik offenbart, die sich für den Einzelnen dahinter verbirgt.
So erklärt er beispielsweise anhand des durch teure Autos zur Schau gestellten Konsums zweierlei: Für die einen liegt darin eine Möglichkeit, über die Außenwirkung zu vermitteln, dass man es geschafft und in Deutschland zu etwas gebracht hat. Für die anderen liegt die Vermutung nahe, dass "der Konsum entweder durch Schwarzarbeit finanziert wird oder aber durch kriminelle Geschäfte". Denn wie sonst soll es gehen, wenn Menschen mit Migrationshintergrund noch immer in deutlich schlechter bezahlten Jobs arbeiten - oder? Die Antwort gibt Deli auf dieses wie so viele weitere von ihm erläuterte Phänomene selbst: "Oft ist keines der Konsumgüter tatsächlicher Besitz. Die Menschen nutzen - viel häufiger als die Mehrheitsgesellschaft - die Möglichkeit, alles mit Hilfe eines Konsumkredits zu finanzieren." Dafür wird das letzte Geld zusammengekratzt, bisweilen ist Überschuldung die Folge.
Deutschlernen als erste Voraussetzung
Deli scheut auch nicht davor zurück, so hart wie sachlich mit beiden Seiten ins Gericht zu gehen. So schreibt er: "Wer es bewusst ablehnt, die Sprache des Landes, in dem man lebt, zu lernen, darf sich nicht wundern, wenn die Integration nicht funktioniert und die Menschen um einen herum darauf mit Unverständnis reagieren." Integration, wie sie von manchen linken Kreisen inzwischen abgelehnt wird, macht er zur Voraussetzung.
Doch eine über Generationen anhaltende Sprachlosigkeit wird verständlich, wenn man von den Eltern ausgeht, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen und Deutsch zunächst weder lernen mussten noch sollten. Von dort richtet sich der Blick auf das Kind, das in diese Familie hineingeboren wird und bis zur Grundschule kein Deutsch lernt, weil die Mutter zu Hause und ein Platz im Kindergarten schwer zu bekommen ist. Dass dieses Kind in der Grundschule Schwierigkeiten haben wird, versteht sich von selbst.
Kindergeburtstage als Problem
So schlicht und nüchtern wie Musa Deli Probleme analysiert, so persönlich und ergreifend werden seine Erzählungen dort, wo er seine eigene Lebensgeschichte einfließen lässt - zumindest für den Leser, der mit den Entbehrungen von Familien mit Migrationserfahrung vertraut ist. So erzählt er, wie seine Mutter einst seinen Kindergeburtstag vergessen hatte, weil der Geburtstag in der türkisch-islamischen Kultur keine große Rolle spielt. Er erzählt, wie schwierig es für ihn in der Schule war, als die Lehrerin ihn beglückwünschte und er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.
Deutsche Schüler luden freilich zu großen Kindergeburtstagen ein, die türkischstämmigen nicht. Es mangelte an Platz und finanziellen Mitteln für so ein Fest wie auch an dem Wissen, wie ein solcher Geburtstag auszurichten ist. Zu den Feiern anderer brachte man aus Unwissenheit kein Geschenk mit und wurde somit bald auch nicht mehr eingeladen. Diese Frau aber, die den Geburtstag ihres Sohnes vergessen hatte, macht nun Jahre später ihrer Enkelin ein Geschenk. Diese Frau kann nämlich kaum lesen und schreiben, und für die vier mit Fehlern übersäten Sätze in dieser ersten Geburtstagskarte braucht sie mehr als eine Stunde. "Sie hatte jedoch für ihre Enkelin all ihren Mut zusammengefasst und diese Karte geschrieben."
Anleitung und Aufforderung zugleich
Delis Buch wird mit den Schicksalen, die er beschreibt und damit begreifbar macht, zum Augenöffner für beide Seiten. Es ist eine Anleitung, sich selbst und diese Gesellschaft in ihren Strukturen zu reflektieren. Es ist eine Aufforderung, miteinander zu reden und Missverständnisse aus der Welt zu räumen.
Was immer man vor dem Lesen dieses Buches für Vorurteile gegenüber Deutschtürken gehabt haben mag, nach der Lektüre wird man anders darüber denken. Und das nicht, weil der Autor Partei für eine Seite ergreift und für ihr Recht als Minderheit streitet, sondern weil er die Ursache von einzelnen Verhaltensweisen und dem großen gesellschaftlichen Zusammenleben für alle Seiten gleichermaßen entwaffnend darlegt.
Auch unbequeme Wahrheiten helfen weiter
Das Einzige, was man diesem Buch vorhalten kann, ist, dass es zu wenig differenziert zwischen dem Erleben des Autors, das gekennzeichnet ist durch die Menschen, die mit ihren Schwierigkeiten in seine Beratungsstelle kommen, und all jenen Menschen mit Migrationshintergrund, die Leben führen wie jeder andere Deutsche ohne Migrationserfahrung auch. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Fokussieren auf das, was nicht gut läuft, statt auch von Positivbeispielen zu berichten, nicht von der falschen Seite instrumentalisiert wird. Gleichwohl darf diese Gefahr nicht dazu verleiten, dass sich diese Gesellschaft vor unbequemen Wahrheiten wegduckt. Insofern muss man Musa Deli dankbar sein, dass er den Mut und die Ehrlichkeit aufgebracht hat, die Wirklichkeit so zu beschreiben, wie er sie sieht, die Gründe dahinter zu analysieren und Lösungen aufzuzeigen, wie es besser gehen könnte.
Und so kann am Ende des Buches eigentlich nur auf beiden, auf allen Seiten der beinahe verzweifelte Wunsch stehen bleiben: Können wir nicht alle noch mal ganz neu anfangen? Können wir uns alle nicht noch mal ganz neu kennenlernen?