Kündigung des INF-Vertrags:Die neue Freiheit bei der Aufrüstung

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Reagieren nach eigenen Worten "symmetrisch" auf die USA: Russlands Präsident Wladimir Putin, Verteidigungsminister Sergei Shoigu (r.) und Außenminister Sergej Lawrow (l.). (Foto: dpa)

Lässt sich der INF-Vertrag noch retten? Schwierig, die USA und Russland wollen nicht auf Mittelstreckenraketen verzichten, wenn Länder wie China und Pakistan sie besitzen.

Von Matthias Kolb, Brüssel, und Paul-Anton Krüger

Die Frist läuft: Sechs Monate noch, dann könnte eines der wichtigsten Abrüstungsabkommen aus den Zeiten des Kalten Krieges Geschichte sein. Doch allzu großes Interesse, den INF-Vertrag zum Verbot von nuklearen Mittelstreckenwaffen zu retten, zeigt Wladimir Putin nicht. In einer im Fernsehen übertragenen Sitzung ließ sich Russlands Präsident am Wochenende von Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu informieren, bevor er verkündete: "Die amerikanischen Partner haben erklärt, dass sie ihre Teilnahme an dem Abkommen aussetzen. Wir setzen sie auch aus." Moskau reagiert laut Putin "symmetrisch" auf die nun schriftlich vorliegende, von allen Nato-Mitgliedern "vollständig unterstützte" Ankündigung Washingtons.

Putins Entscheidung kommt nicht unerwartet; sie fügt sich ein in die Kommunikationsstrategie des Kreml, wonach Russland vertragstreu sei, die USA aber nicht. Obwohl Washington seit Mai 2013, also schon mit Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Barack Obama, Russland Dutzende Male mit dem Vorwurf konfrontiert hat, dass der Marschflugkörper 9M729 gegen den INF verstoße, stritt Moskau erst ab, dass es das System überhaupt gebe. Als Russland die Existenz einräumte, hieß es, 9M729 fliege nur 480 Kilometer. Putins Ankündigung nun ist Teil des blame game, in dem sich Washington und Moskau gegenseitig die Schuld zuweisen.

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Amerikaner und Russen beschuldigen sich gegenseitig, den INF-Vertrag zu brechen - und scheinen beide kein Interesse daran zu haben, das Abkommen zu erhalten.

Von Paul-Anton Krüger

Putin ordnete an, keine Gespräche mit Washington mehr über Fragen der Rüstungskontrolle zu initiieren, bis die USA "reif genug für einen gleichberechtigten, sinnvollen Dialog" seien. Die beiden entscheidenden Akteure, die Präsidenten, haben seit dem Gipfel von Helsinki im Juli 2018 nicht mehr direkt miteinander geredet. Das hat potenziell weitreichende Folgen. Denn auch das andere verbleibende Abrüstungsabkommen der beiden einstigen Supermächte, der New-Start-Vertrag, läuft im Februar 2021 aus, sofern sie sich nicht auf eine Verlängerung einigen. Er limitiert strategische Atomwaffen und ihre Trägersysteme. Zum ersten Mal seit 1972 würden die Nukleararsenale dann keinerlei Beschränkungen mehr unterliegen.

Trump und Putin haben seit Monaten nicht mehr direkt miteinander geredet

Was für viele Menschen vor allem in Europa nach Apokalypse klingt, dürfte den Geschmack John Boltons treffen; er ist Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump. Er lehnt Rüstungskontrolle grundsätzlich ab; die USA sollten sich nicht ohne Not Optionen zur Verteidigung ihrer Sicherheitsinteressen berauben, ist sein Mantra. Er gilt als treibende Kraft hinter Trumps Entscheidung, die Europa kalt erwischte. Zu sehr hatte man sich wohl auch in Berlin darauf verlassen, dass die im Dezember 2017 vorgestellte Strategie der USA zum INF Bestand haben werde. Mit Diplomatie, Sanktionen und erlaubten militärischen Studien zu Mittelstreckenwaffen sollte Druck auf Russland ausgeübt werden - von einer Kündigung war noch keine Rede.

In Deutschland gibt es von der Bundeskanzlerin über den Außenminister bis zu den Außen- und Verteidigungspolitikern parteiübergreifend Appelle für den Erhalt des INF-Vertrages und Verhandlungen zwischen den USA und Russland. In Moskau jedoch wies Präsident Putin seinen Verteidigungsminister an, eine landgestützte Version des Marschflugkörpers Kalibr zu entwickeln. Moskau hatte damit von Schiffen und U-Booten aus Ziele in Syrien attackiert. Auf 2000 Kilometer bezifferte Schoigu die Reichweite - der INF verbietet Flugkörper mit 500 bis 5500 Kilometern.

Zudem wünscht sich Putin auch landgestützte Mittelstreckenraketen für den neuen Hyperschallgleiter Avangard. Ende 2018 hatte er einen erfolgreichen Test des Systems bekannt gegeben. Der Gleiter wird ins All geschossen und stürzt dann mit bis zu zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit auf sein Ziel - bestückt mit Atomsprengköpfen. Er soll Russland laut Putin auf Jahrzehnte "unverwundbar" machen gegen jegliche Raketenabwehr.

In den USA wird das Pentagon ebenfalls untersuchen, welche Waffensysteme für INF-Reichweiten modifiziert oder neu entwickelt werden könnten. Von den Tomahawk-Marschflugkörpern gab es bis zum INF-Vertrag eine landgestützte Version. In Entwicklung ist ein neues Raketensystem für die Armee, PRSM genannt, dessen Reichweite erhöht werden könnte. Fraglich ist allerdings, ob der Kongress dafür Geld freigeben würde, nachdem die Demokraten die Macht im Repräsentantenhaus übernommen haben - Oppositionsführerin Nancy Pelosi hat Trump kritisiert und vor einem Rüstungswettlauf gewarnt.

Einig sind sich Moskau und Washington bei allem Streit, dass es nicht ihr Interesse ist, auf Mittelstreckenwaffen zu verzichten, während andere sie besitzen - allen voran China, auch Pakistan und Indien, schon gar Iran oder Nordkorea. Hier setzt Bundesaußenminister Heiko Maas mit der Idee an, den INF-Vertrag durch eine Multilateralisierung zu retten.

Die Nato diskutiert schon über die Stationierung neuer Waffen

China ruft zwar die USA und Russland auf, das Abkommen zu erhalten. Sich selber aber Beschränkungen aufzuerlegen, wies Peking brüsk zurück. Das Land verfügt über mehr als 2000 ballistische Raketen und Marschflugkörper - der Großteil davon im INF-Bereich. Sie sind ein zentrales Element der chinesischen Militärstrategie für mögliche Konflikte im Südchinesischen Meer oder um Taiwan - und derzeit wohl auch noch das einzige Mittel, um einen US-Flugzeugträgerverband bedrohen zu können.

In der Nato ist indes schon eine Debatte über mögliche Reaktionen im Gange, einschließlich der Stationierung neuer amerikanischer Atomwaffen. Geschlossenheit zu wahren wird beim Thema INF nicht leicht sein, zu unterschiedlich ist die Wahrnehmung der Bedrohung durch Russland.

Dazu kommt Trumps Skepsis gegenüber den westeuropäischen Mitgliedern, die in seinen Augen zu wenig ins Militär investieren, vor allem Deutschland. Den zum Jahresende fälligen Bericht, wie man die zugesagten zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigungsausgaben zu erreichen plant, hat die Bundesregierung in Brüssel noch nicht vorgelegt. Da wird Trump kaum geneigt sein, Wünsche aus Berlin zu erhören. Und wenn die Nato gespalten ist, hat der Kreml ein wichtiges Ziel schon erreicht, ohne auch nur ein Geschoss abgefeuert zu haben.

© SZ vom 04.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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