Sechs Monate bleiben noch. Erst dann tritt die Kündigung des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen durch die Amerikaner in Kraft. Seit 2014 werfen die USA Russland vor, den Vertrag zu brechen. Moskau habe unter der Bezeichnung 9M729 einen Marschflugkörper entwickelt, der "deutlich jenseits" des INF-Limits getestet worden sei. Der INF-Vertrag verbietet die Stationierung von Raketen und Marschflugkörpern mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern, die vom Boden aus abgefeuert werden. Tests der bei der Nato unter dem Kürzel SSC-8 geführten neuen Waffe an sich wären erlaubt - wenn sie dazu dienten, luft- oder seegestützte Waffen zu entwickeln. Doch darauf hätten die Russen sich nicht beschränkt, so die Amerikaner. Vielmehr habe Russland SSC-8 auf Werferfahrzeugen stationiert und bei zwei Bataillonen der Armee eingeführt. Die USA fordern deshalb, Moskau müsse die Flugkörper und dazugehörige Systeme verschrotten, um den INF einzuhalten.
Russland hält dem entgegen, der neue Marschflugkörper habe nur eine Reichweite von 480 Kilometern. Experten halten das aber für wenig plausibel. Zuvor hatte Moskau jahrelang bestritten, dass das Waffensystem überhaupt existiert. Auch wirft Russland den USA vor, ihrerseits den Vertrag zu verletzen. Sowohl bewaffnete Drohnen des US-Militärs als auch Hera-Raketen, die für Tests der Abwehr von Interkontinentalraketen zum Einsatz kommen, seien nicht mit dem INF vereinbar. Vor allem moniert Moskau aber, dass die USA für das Raketenabwehrsystem Aegis Ashore in Rumänien und vermutlich 2020 auch in Polen neue Raketenstartanlagen aufstellen. Diese Raketenabwehr soll mithilfe von SM-3-Raketen angreifende ballistische Raketen abfangen.
Die USA wiesen das Angebot zurück, die Waffe zu besichtigen
Moskau argumentiert nun, dass die gleichen Startkanister, mit denen SM-3-Raketen abgefeuert werden, auf US-Schiffen benutzt werden, um Marschflugkörper des Typs BGM-109 Tomahawk loszuschicken. So zuletzt geschehen bei Vergeltungsschlägen in Syrien. Umgekehrt könnten nach Ansicht Moskaus mit der neuen Raketenabwehr Aegis Ashore auch Tomahawks von Land aus gestartet werden. Die Marschflugkörper können mit dem schwersten Gefechtskopf 1300 Kilometer weit fliegen, sie fielen damit unter das INF-Verbot. Ihre landgestützte Version gab es schon einmal. Unter dem Namen Gryphon waren sie auch in Deutschland stationiert. Sie mussten wegen des INF-Vertrags verschrottet werden. Die USA halten dem entgegen, dass die für die Raketenabwehr vorgesehenen Startkanister technisch nicht geeignet seien, Marschflugkörper abzufeuern.
Rüstungsexperten und europäische Politiker hatten gehofft, durch gegenseitige Inspektionen zumindest vorerst eine Kündigung des Vertrags abwenden zu können. Allerdings wiesen die USA das Angebot Russlands zurück, den umstrittenen Marschflugkörper zu besichtigen. Davon könne man nicht auf dessen Reichweite schließen, argumentiert Washington. Um die zu ermitteln, müsste Russland den Amerikanern wohl Telemetrie-Daten von Flügen und weitere technische Parameter des Waffensystems zugänglich machen und einer Überprüfung zustimmen. Allerdings gilt es als unwahrscheinlich, dass Moskau den Amerikanern tatsächlich Details eines ihrer modernsten Waffensysteme preisgeben will. Auch die USA dürften sich zumindest unter Präsident Donald Trump kaum dazu bereitfinden, Russland tiefe technische Einblicke in ihre Raketenabwehr zu gewähren.
Überdies sind - von offiziellen Verlautbarungen abgesehen - weder Russland noch die USA besonders daran interessiert, den INF zu erhalten. Beide monieren, dass Atommächte wie China, Indien und Pakistan den Beschränkungen nicht unterliegen und über Tausende Mittelstreckenraketen verfügen, ebenso Nordkorea und Iran. Peking hat stets Vorschläge zurückgewiesen, dem INF globale Geltung zu verschaffen.