Es war klar, dass etwas nicht stimmte, als Johanna Maiers Brüste anschwollen. Sie verloren ihre Form, verhärteten sich - und taten höllisch weh. "Das war ein stechender Schmerz, das hat unglaublich gebrannt", erinnert sich Johanna Maier (Name geändert) . Sie ist heute 66 Jahre alt und trug jahrzehntelang Implantate in der Brust, aus Silikon. Könnte da etwas ausgelaufen sein? Der Arzt wollte sichergehen, erzählt Maier, und habe ihr deswegen zu einer schnellen Operation geraten. Als er Johanna Maier im Juni 2009 die beiden Silikonkissen entfernte, zeigte sich das ganze Ausmaß: Eines war gerissen, Silikon bereits in den Körper gelangt.
Maier war Mitte dreißig, sie hatte zwei Kinder, stand voll im Leben, als bei einer Routineuntersuchung Mitte der 1980er-Jahre ein Tumor in der Brust entdeckt wurde. Die Operation verlief gut. Doch danach war ihre linke Brust viel zu klein geworden, fand sie, ihr Arzt habe auf beiden Seiten ein Implantat empfohlen. Über die Risiken sei sie "eigentlich gar nicht" informiert worden. Sie sei ja froh gewesen, dass sie die Geschwulst los war, und sie habe "halt auch normal ausschauen" wollen.
Exklusiv:Die Implant Files
Implantate können Leben retten - oder zerstören. Patienten leiden, die Politik schaut weg und die Industrie macht Milliardengewinne. Die weltweite Recherche im Überblick.
Brustimplantate sind eines der größten Betätigungsfelder plastischer Chirurgen. Im Jahr 2017 waren Brustvergrößerungen nach Schätzungen der International Society of Aesthetic Plastic Surgery mit fast 1,7 Millionen Eingriffen sogar die beliebteste Schönheitsoperation weltweit. Zuletzt wurde damit mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr umgesetzt. In Deutschland werden nach Herstellerangaben etwa 60 000 Implantate pro Jahr verkauft, nur etwa 5000 davon zum Aufbau der Brust nach einer Tumoroperation, die meisten aus kosmetischen Gründen.
Welche Risiken die Frauen aber eingehen und wie viele eines Tages so böse überrascht werden wie Johanna Maier, ist völlig unklar.
Das ist umso erstaunlicher, als es Ärzten in den USA ab 1992 vorübergehend sogar untersagt war, die seit den frühen 1960er-Jahren verwendeten Silikonimplantate aus kosmetischen Gründen einzusetzen. Firmen durften dafür auch keine mehr verkaufen, weil die US-Medizinaufsicht FDA Sicherheitsbedenken hatte. 14 Jahre später aber kamen die Implantate wieder auf den Markt. Zwar forderte die FDA von den zwei größten Herstellern nun Langzeitstudien mit jeweils 40 000 Frauen, um die Risiken zu erforschen. Doch keine Firma schloss eine solche Studie je ab. Konsequenzen hatte das nicht. In Deutschland waren Silikonimplantate ohnehin die ganze Zeit über weiter verkauft worden.
Seitdem haben die Hersteller von Implantaten offenbar gelernt, wie sie die FDA austricksen können. Wie das funktioniert, entdeckte der Anwalt Chris Shakib im Jahr 2017, als er 278 Frauen mit beschädigten Brustimplantaten in einem Verfahren gegen einen Arzt vertrat: Er fand die Fälle seiner Mandantinnen nicht im amerikanischen Melderegister. Dabei hatte der betreffende Hersteller zum Teil bereits für Schäden gezahlt, er musste also von den Vorfällen wissen und wäre verpflichtet gewesen, sie zu melden. Die Firma hatte diese Komplikationen aber als geringfügig deklariert und jeweils nur vierteljährliche Zusammenfassungen der ihr bekannt gewordenen Probleme bei der FDA abgeliefert. Diese Berichte werden, anders als gravierende Einzelfallmeldungen, nicht veröffentlicht.
"Grundsätzlich ist es so, dass wir überhaupt keine vernünftigen Daten haben", sagt Uwe von Fritschen, Chefarzt der Plastischen Chirurgie am Helios-Klinikum Emil von Behring in Berlin. Und sein Kollege Peter Vogt, plastischer Chirurg an der Medizinischen Hochschule Hannover, ergänzt: "Vor zwanzig Jahren hieß es noch, Silikon sei völlig harmlos. Es gibt aber ausreichend Untersuchungen, die klarmachen, dass Silikon doch problematischer sein kann."
Im Jahr 2017 haben sich weltweit rund 170 000 Frauen ihre Implantate wieder herausnehmen lassen - weil sie Beschwerden hatten oder die Kissen aus anderen Gründen wieder loswerden wollten. Und dabei ging es um ganz normale Implantate, nicht Pfusch-Kissen wie die der französischen Skandalfirma PIP ( Text unten), die billiges Industriesilikon enthielten. Auf Facebook haben sich bereits mehr als 52.000 Frauen zusammengeschlossen, die sich mit den Brustimplantaten krank fühlen, ständig kommen neue hinzu.
Die Frauen klagen vor allem über entzündete Narben, verrutschte Implantate oder Schmerzen in der Brust, etwa wenn sich vernarbtes Brustgewebe zusammenzieht. Oder wenn, wie bei Johanna Maier, ein Kissen plötzlich ausläuft. Maier hatte nach dem Austausch ihrer Implantate 2009 nur für einige Jahre Ruhe. 2018 bekam sie wieder Probleme, mit beiden neuen Kissen, wie ihr heutiger Arzt feststellte, der plastische Chirurg Frank Busse aus Wasserburg am Inn: "Eines war durch eine deutliche Kapselfibrose stark verformt, das andere innerhalb der Hülle komplett ausgelaufen", erzählt Busse, der Maier die beiden Kissen entnommen hatte. Maier entschied sich nun gegen neue Implantate, "ich lasse gar nichts mehr machen. Das ist mir zu gefährlich. Lieber gleiche ich das mit BHs aus".
Dass Implantate wie Maiers ersten überhaupt 20 Jahre halten, ist die Ausnahme. Oft müssen sie schon nach zehn Jahren ausgetauscht werden. Aber auch darüber hinaus ist die Zahl der Nachoperationen aufgrund von Komplikationen hoch: Nach sieben Jahren trifft es jede achte Patientin, die sich aus ästhetischen Gründen einer Brustvergrößerung unterzogen hat; bei einer Rekonstruktion nach Krebs sogar jede vierte, wie eine aktuelle Untersuchung von knapp 100.000 amerikanischen Frauen zeigt, die seit 2007 Implantate bekommen haben. "Sie sollten davon ausgehen, dass Sie zusätzliche Operationen brauchen werden", warnt die FDA inzwischen.
Neben den bekannten Risiken erkennen Ärzte immer neue Gefahren. So wird derzeit zunehmend über eine seltene Krebsform berichtet, die überraschend häufig bei Implantatträgerinnen gefunden wird. Auch wenn das anaplastisch-großzellige Lymphom nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:30.000 auftritt, lässt sich laut FDA ein Zusammenhang mit Brustimplantaten nicht länger ignorieren. "Wir nehmen das sehr ernst", sagt Uwe von Fritschen. Beunruhigend sind auch Hinweise auf sehr ernste Erkrankungen, bei denen das Immunsystem den eigenen Körper angreift.
Gerade sind zwei große unabhängige Studien aus den USA und aus Israel erschienen, die die Risiken für solche unheilbaren Autoimmunerkrankungen durch Brustimplantate betonen. Auch wenn eine dieser Studien viel Kritik einstecken musste, weil manche Fachleute und auch die FDA die Datenanalyse nicht überzeugend fanden, so zeigt die Kontroverse im Grunde nur eines: Auch fast 60 Jahre nach der Erfindung solcher Implantate fehlen nach wie vor Daten zu deren Risiken.
Seitdem die Medizinaufsicht in den USA die Meldepflicht wieder strenger handhabt, ist die Zahl der negativen Vorfälle mit Brustimplantaten dort sprunghaft gestiegen, von gerade mal 206 im Jahr 2015 auf fast 8500 allein im ersten Halbjahr 2018. Dagegen bleibt in Deutschland die Zahl der Vorkommnismeldungen erstaunlich gering. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wurde im Jahr 2016 über 118 Fälle informiert, ein Jahr später waren es 141, in diesem Jahr dürften es etwas mehr als 200 werden.
Das hat mit der Realität wenig zu tun. In die Kliniken kommen in Wahrheit mehrere Tausend Frauen pro Jahr, weil ihnen ihre Implantate Schwierigkeiten bereiten. Das zeigen Daten des Statistischen Bundesamtes, das die Operationen in Kliniken erfasst, die abgerechnet werden. Demnach wurden im Jahr 2017 in deutschen Krankenhäusern 4596 Brustimplantate allein wegen einer Kapselfibrose entfernt, weitere 2473 aus anderen Gründen. Auf Anfrage räumt das BfArM ein, von Vorkommnissen selbst mitunter nur durch Zufall zu erfahren - etwa weil "ein Chirurg zunächst in einem Zeitungsinterview berichtet", schreibt das Amt. In solchen Fällen weise man "nochmals eindringlich auf die Meldeverpflichtung der Ärzte hin", heißt es aus der Behörde.
"Ich stelle immer wieder fest, dass mit Implantaten einiges im Argen liegt - auch mit solchen von namhaften Herstellern", sagt auch Johanna Maiers Chirurg Frank Busse. Dann sei es oft sogar für ihn als Arzt schwierig, an Informationen zu kommen, selbst beim BfArM habe er keinen Erfolg gehabt. Er habe das entsprechende Formular online ausgefüllt und noch eine E-Mail bekommen, dass es eingegangen sei. "Danach habe ich nie mehr etwas vom BfArM gehört." Es sei frustrierend, dass man so alleingelassen werde, klagt Busse, "für die Patientin und den Arzt".
Bereits seit dem Skandal mit den Pfuschimplantaten der Firma PIP ist die Einführung eines Pflichtregisters im Gespräch, in das Ärzte alle ihre Patientinnen mit Brustimplantaten und deren Befinden eintragen müssen. Aus dem Bundesgesundheitsministerium heißt es, man arbeite daran.
Mitarbeit: Sasha Chavkin