Aus dem Hubschrauber sieht die Stadt Jérémie aus wie ein Geröllhaufen. Fast kein Haus steht mehr, und die wenigen, die noch stehen, haben keine Dächer mehr und erlauben den Blick in zerwühlte Privatheit. Auf den Straßen ameisenkleine Menschen, die sich durch das Geröll und den Dreck kämpfen, Menschen sitzen apathisch vor ihren Hütten, auf denen zerzauste Palmen liegen. Es fehlt an so vielem, an Essen, an Häusern, an Informationen, vor allem an frischem Wasser, wie Innenminister François Anick Joseph sagte. Das war am Donnerstag, da sprach er noch von 108 Toten. Dass diese Zahl eine bizarre Fehleinschätzung sein würde, war da schon klar.
Mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 225 Kilometern pro Stunde ist Hurrikan Matthew am Dienstag über den Süden Haitis hinweggefegt, dann wälzten sich Flüsse aus Schlamm durch die Straßen, rissen Brücken weg und überzogen die bunten Häuser mit einer grauen Schicht. Wie die Situation in den betroffenen Gebieten genau ist, wird jetzt klar, die Telefonverbindungen waren unterbrochen, ebenso die Stromversorgung, die einzige Verbindungsstraße ist unpassierbar. Die BBC nennt Jérémie den Ground Zero dieser humanitären Katastrophe.
Hurrikan Matthew:"Dieser Sturm ist ein Monster"
Besonders in Haiti hat "Matthew" massive Schäden und mehr als 500 Menschen getötet. An der US-Küste kommt er langsamer und schwächer an, doch auch hier gibt es Überschwemmungen.
"Der Hurrikan traf uns vor drei Tagen, aber der politische Hurrikan trifft uns seit 30 Jahren."
Ausgerechnet Jérémie, Hauptstadt des Bezirks Grand' Anse, 31 000 Einwohner, Stadt der Poeten, malerisch auf einer Landzunge gelegen, aufgeteilt in Oberstadt und Unterstadt, mittendrin die mächtige, rote Kathedrale, welcher der Hurrikan das Dach weggerissen hat. Mehr als 80 Prozent der Stadt liegt jetzt in Trümmern. Die Menschen auf Haiti leben schon lange mit der Willkür der Natur, es gibt Überschwemmungen und Dürren, und immer wieder rasen Hurrikane über die Insel hinweg. Aber Matthew ist wohl die größte Naturkatastrophe in Haiti seit dem Erdbeben vom 12. Januar 2010, bei dem mehr als 200 000 Menschen starben und 1,5 Millionen obdachlos wurden.
Es hätte gar nicht so viel Wucht gebraucht, um furchtbare Schäden anzurichten. Zehntausende in diesem Land hausen in Hütten aus Wellblech, die kaum einen starken Regen aushalten, die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als einem US-Dollar am Tag. Ein Bewohner aus Les Cayes sagte, dass viele starben, weil sie ohnehin nicht glauben, was ihnen die Behörden erzählen. Also blieben sie in ihren schäbigen Hütten, bis es zu spät war.
Es ist, als würden sie in Haiti immer nur die Toten zählen. Dass die Regierung anfangs sogar von nur wenigen Toten sprach, ist Teil des großen Versagens, wie John Miller Beauvoir es nennt. "Das war eine reine Schätzung, hier ist einfach nichts organisiert." Mittlerweile ist von mindestens 800 Toten die Rede. "Es werden sicher viel mehr", sagt John Miller Beauvoir.
Er ist einer der jungen Männer in diesem Land, die endlich etwas ändern wollen. Bei der für Sonntag geplanten Präsidentenwahl hätte er für den Senat kandidiert, um die alte Führung endlich abzusetzen. Aber die Wahlen wurden angesichts der Lage noch einmal verschoben, auf welchen Termin ist noch nicht klar. "Eine weise Entscheidung", sagt John Miller Beauvoir. Seine Stimme knarzt durchs Telefon. "Sie fangen an zu verstehen, wie schlimm die Situation ist - jetzt endlich."
Die Menschen im Westen der südlichen Halbinsel hätten keine Häuser mehr, fast die gesamte Ernte der Gegend wurde zerstört, viele liefen in den Straßen herum und suchten nach Essen und Wasser. Wer kann, trinkt Kokosnussmilch. Wie viele Menschen wirklich betroffen sind, weiß auch niemand genau. Man bräuchte jetzt Helikopter, um den Leuten schnell zu helfen, sagt John Miller Beauvoir. Wie viele Helikopter hat die Regierung? Keinen einzigen, sagt er.
Die Amerikaner haben jetzt mehrere Militärhubschrauber geschickt, um die Rettungsarbeiten zu unterstützen. Außerdem sind US-Marineschiffe, darunter ein Flugzeugträger und ein Krankenhausschiff, in die Katastrophenregion verlegt worden. Wie so oft steht Haiti komplett hilflos vor der Katastrophe.
Die Infrastruktur des Landes, die schon immer ein Problem war, ist nach dem Hurrikan in einem mehr als desolaten Zustand. Das marode Sanitärsystem wurde von den Wassermassen geradezu überflutet. Das hat auch damit zu tun, dass Teile des Landes komplett entwaldet sind, die Erosion spült ganze Gegenden weg, die Berge haben keinen Halt mehr. Enzo di Taranto, der Leiter des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Hilfe in Haiti, sagt, er erwarte schwere Auswirkungen auf die Umwelt, die Landwirtschaft und das Wassersystem.
Cholera könnte sich nun wieder verbreiten
Was man jetzt am meisten fürchtet, ist die Cholera. Haiti galt bis zum Jahr 2010 als cholerafreie Zone, aber kurz nach dem damaligen Erdbeben tauchten dann die ersten Fälle auf. Es ist erst ein paar Wochen her, dass die Vereinten Nationen eine Mitverantwortung für den Ausbruch der Cholera einräumten. Nepalesische UN-Soldaten sollen den Erreger ins Land gebracht haben. Hunderttausende hatten sich infiziert, Tausende sind seitdem gestorben. Jetzt befürchten viele, dass sich die Cholera in der jetzigen Situation wieder verbreiten könnte.
John Miller Beauvoir hofft auf einen Umbruch in diesem Land. Es wird immer wieder Hurrikane geben, die Frage sei aber doch, wie effektiv die Regierung darauf reagiere. Und dann sagt er noch diesen Satz: "Der Hurrikan traf uns vor drei Tagen, aber der politische Hurrikan trifft uns seit 30 Jahren."