Erinnerungskultur:Klare Sicht trotz Deutungsdickicht

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Eingang zur Hölle: Lagertor im einstigen KZ und Vernichtungslager Auschwitz. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Der einstige Verleger und Historiker Ernst Piper zeigt in seinen Aufsätzen, dass es aus seiner Sicht zur Erinnerung an Auschwitz keine Alternative gibt.

Von Robert Probst

Auf seiner Webseite stellt sich der Historiker Ernst Piper mit den treffenden Worten vor: "In meinem gesamten Berufsleben ging es immer um Bücher. Ich habe Bücher gelesen, begutachtet, lektoriert, redigiert, rezensiert, herausgegeben, vermittelt, verlegt und einmal sogar gedruckt." Nun, zu seinem 70. Geburtstag im März, hält der Mann, der viele Jahrzehnte als Verleger in der Historikerszene mitmischte und später selbst habilitierte, Rückschau. Worum es geht, ist mit dem Titel - einem Zitat von Raul Hilberg - gut beschrieben: "Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen." Die konkrete Vergangenheit, die hier gemeint ist, ist der Holocaust.

Piper, bekannt geworden unter anderem durch viel gelobte Biografien über Alfred Rosenberg (2005) und Rosa Luxemburg (2018), versammelt in diesem Band mehrere Aufsätze - teilweise schon erschienen, teilweise Originalbeiträge -, die um die deutsche Erinnerungskultur und historische Ereignisse im "Zeitalter der Extreme", so der Untertitel, kreisen. Seine zentrale Botschaft lautet: Zur Erinnerung an Auschwitz gibt es keine Alternative.

Doppelsicht auf die Zeitgeschichte

Der Mehrwert im Vergleich zu anderen derartigen Essaybänden besteht darin, dass Piper die Problematik aus zweierlei Perspektiven schildern kann: der des Verlegers und der des Historikers. Als Sohn des Verlegers Klaus Piper und später auch Geschäftsführer des Münchner Verlags beginnt er seine Aufsatzsammlung mit einem Abriss über seine Familie und den Markt für historische Bücher. Spannend etwa zu erfahren ist, wie während des Historikerstreits 1986/87 ein Sammelband mit allen konkurrierenden Denkrichtungen nur mit allergrößter Mühe und diplomatischem Geschick zustande kam. Oder wie Martin Broszat und Saul Friedländer in unterschiedlicher Art und Weise Einfluss auf das Denken Pipers nahmen.

Außer dieser Doppelsicht interessieren Piper die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und die Wegbereiter des genozidalen Antisemitismus in Deutschland sowie die Wucherungen und Sedimente der deutschen Erinnerungslandschaften. Er erinnert an den (fast) vergessenen Pionier der Holocaustforschung Joseph Wulf und er zitiert den Mediävisten Johannes Fried, wonach die Erinnerung die kontinuierliche Verformung der Vergangenheit unter dem Druck der Gegenwart sei.

Ernst Piper: Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen. Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme. Verlag Ch. Links, Berlin 2022. 336 Seiten, 26 Euro. E-Book: 18,99 Euro. (Foto: N/A)

Obwohl dieser Druck der Gegenwart - derzeit vor allem der Angriff auf den Lehrsatz von der Singularität des Holocaust "von links" durch die Fokussierung auf Kolonialverbrechen - nur angedeutet wird, zeigt Piper präzise, dass man als Historiker eine guten Kompass braucht, um sich nicht im "Nebel heilloser Vergangenheit" zu verirren. Ernst Piper hat diesen Kompass. Er durchschaut das Dickicht der Deutungen.

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