Haushaltsdebatte im Bundestag:Verkehrte Welt

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Geht's der Wirtschaft gut, muss sich der Finanzminister nicht sorgen. Das war einmal. Denn die Koalition hat eine Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Nun muss sie sparen, obwohl die Steuereinnahmen wieder sprudeln.

Claus Hulverscheidt

Es gab nicht viele Dinge, über die sich Koalition und Opposition zu Beginn der Haushaltswoche am Dienstag im Bundestag einig waren - immerhin ein Punkt aber sorgte parteiübergreifend für Begeisterung: Mit der Wirtschaft geht es nach dem Absturz des vergangenen Jahres wieder steil bergauf, die Ausgaben sinken, die Steuereinnahmen sprudeln. Und darüber, so formulierte es der Sozialdemokrat Carsten Schneider, freue sich nicht nur die Regierung, "darüber freut sich auch die SPD".

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bei den Beratungen über den Bundeshaushalt für das Jahr 2011. Er sieht Ausgaben in Höhe von 307 Milliarden Euro vor und 57,5 Milliarden Euro neue Schulden. Für viel Kritik sorgen die geplanten Ausgabenkürzungen im Sozialbereich. (Foto: dpa)

Tatsächlich kann einem Haushaltspolitiker kaum etwas Besseres passieren, als dass die Wirtschaft floriert. Nichts nämlich hat so unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe der Sozialausgaben einerseits und der Steuereinnahmen andererseits wie die Konjunkturentwicklung. Schon wenige Zehntelprozent mehr Wachstum verkleinern das Haushaltsloch um einen Milliardenbetrag, weshalb bisher die Regel lautete: Je höher das Bruttoinlandsprodukt (BIP), desto kleiner die Sorgenfalten auf der Stirn des Bundesfinanzministers.

Seit der Bundestag jedoch die neue Schuldenbremse im Grundgesetz verankert hat, gelten die alten Gesetzmäßigkeiten so nicht mehr - ja sie werden bei der Aufstellung des Haushalts für 2011 geradezu auf den Kopf gestellt: Maßstab für eine erfolgreiche Haushaltspolitik ist nämlich von sofort an nicht mehr die tatsächliche Höhe der Neuverschuldung, sondern das sogenannte strukturelle Defizit.

Bei der Berechnung dieses rein virtuellen Werts werden nur diejenigen Einnahmen und Ausgaben berücksichtigt, die tatsächlich von Dauer sind. Damit soll verhindert werden, dass die jeweilige Regierung ihre Bilanz mit Hilfe vorübergehender, rein konjunktureller Einmaleffekte schönen kann.

Erst wenn sich das Wachstum über Jahre verstetigt, wird ein Teil der Mehreinnahmen als dauerhaft anerkannt. Zwischen 2010 und 2016, so sagt es die Verfassung, muss das strukturelle Defizit in gleichen Schritten von derzeit etwa zwei auf 0,35 Prozent des BIP reduziert werden. Die Obergrenze liegt also am Ende bei etwa zehn Milliarden Euro.

In Kombination mit der unerwartet guten Wirtschaftsentwicklung führt diese Vorgabe zu einer kuriosen Situation: Ursprünglich nämlich war Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) davon ausgegangen, dass das strukturelle Defizit in diesem Jahr bei 70 Milliarden Euro liegen wird. Das hätte bedeutet, dass der Fehlbetrag bis 2016 pro Jahr um zehn Milliarden Euro verringert werden muss. 2011 wären also noch 60 Milliarden, 2012 noch 50 Milliarden Euro erlaubt gewesen.

Bei der Aufstellung des Etats und der mittelfristigen Finanzplanung im Juni war dann aber bereits klar, dass das Defizit im Ausgangsjahr 2010 wohl nur etwa 53 Milliarden Euro betragen wird - eine Korrektur mit dramatischen Folgen: 2011 lag die Defizit-Obergenze damit plötzlich nur noch bei 46 Milliarden Euro, für 2012 verringerte sich das Limit von 50 Milliarden auf 39 Milliarden Euro. Die Konsequenz war das Sparpaket der Koalition von Anfang Juli, das unter anderem die neue Luftverkehrsabgabe und den Wegfall des Elterngelds für Empfänger von Hartz IV vorsieht.

Seither aber hat sich die wirtschaftliche Lage noch einmal weiter aufgehellt, nach Schätzung von Experten könnte das strukturelle Defizit deshalb 2010 am Ende bei 47 Milliarden Euro liegen. Für 2011 ergäbe sich damit eine Obergrenze von nur noch 41 Milliarden, für 2012 von lediglich 35 Milliarden Euro.

Allein bis zum Ende des sogenannten Finanzplanungszeitraums im Jahr 2014 müsste die Regierung damit über das bereits beschlossene Konsolidierungsprogramm von 80 Milliarden Euro hinaus ein weiteres Sparpaket im Volumen von beinahe 20 Milliarden Euro schnüren. Einen solchen zweiten Kraftakt will sich die Koalitionsspitze jedoch ersparen - weshalb die Bundestagsabgeordneten von Union und FDP jetzt vor einem Dilemma stehen: Entweder sie verabschieden Schäubles Entwurf vom Juni und setzen sich damit dem Vorwurf aus, wider besseres Wissen veraltete Zahlen zu verwenden und schon im allerersten Jahr gegen den Geist der Schuldenbremse zu verstoßen. Oder aber sie starten eine groß angelegte Streichaktion und bringen damit die eigenen Frontleute in die Bredouille. Nimmt man die Aussagen aus der Haushaltsdebatte am Dienstag zum Maßstab, spricht vieles dafür, dass sie sich für Variante eins entscheiden werden.

© SZ vom 15.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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