Was man bisher über die Bluttat von Halle weiß, deutet darauf hin, dass dies der erste Anschlag auf eine jüdische Synagoge in Deutschland mit Todesfolge seit dem Jahr 1970 war. Am 13. Februar 1970 war ein Brandanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in München verübt worden, der das dazugehörige Altenheim traf und dem sieben Holocaust-Überlebende zum Opfer fielen. Wer dafür verantwortlich war, wurde nie ermittelt. Der Täter vom Mittwoch nun wollte offenbar in die Synagoge in Halle eindringen und schoss dann, als dies nicht gelang, auf Passanten.
Wenn in der Bundesrepublik Deutschland Lehren aus dem Holocaust, aus der fabrikmäßigen Ermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg gezogen wurden, dann in jedem Fall diese: Von Deutschland darf nie wieder antisemitische Gewalt ausgehen. Trotzdem kam es in der Nachkriegszeit immer wieder zu beängstigenden Zwischenfällen.
Zum Ende des Jahre 1959 beschmierten zwei Mitglieder der rechtsextremen Deutschen Reichspartei die Synagoge in Köln mit den Worten "Deutsche fordern: Juden raus" sowie mit Hakenkreuzen. Es folgten daraufhin Nachahmungstaten, die als "antisemitische Schmierwelle" bekannt wurden. Zugleich führten diese Vorfälle zu einem Wachrütteln der jungen Bundesrepublik im Umgang mit dem antisemitischen Erbe und den nationalsozialistischen Verbrechen.
Folge der Aufarbeitung der Vergangenheit war eine eindringliche Erinnerungskultur
Der Publizist und Demokratie-Erzieher Dolf Sternberger schrieb damals in Zeitungskommentaren über das "unselige Erbe" und beklagte die "Normalisierung" Adolf Hitlers. Die verbreitete Empörung über die Taten wurde als Lernprozess der Gesellschaft wahrgenommen, auch wurde konkret darüber debattiert, die Geschichte des Nationalsozialismus stärker im Schulunterricht zu behandeln als bisher. Spätestens da begann, auch angestoßen durch die Auschwitz-Prozesse seit 1963, eine langwierige und umstrittene "Aufarbeitung" der deutschen Schuld am Holocaust, ein Prozess, der eine eindringliche Erinnerungskultur zur Folge hatte und oft als eine Erfolgsgeschichte dargestellt wird, als exemplarisch dafür, wie Nationen sich zur ihren Kriegsverbrechen verhalten können.
Dies ändert indes nichts daran, dass seit Gründung der Bundesrepublik vor 70 Jahren eine Minderheit der Bevölkerung, ein sogenannter Bodensatz, konstant judenfeindliche Überzeugungen hegt. Der Hass auf Juden hat eine lange Geschichte; seit dem 19. Jahrhundert mischt sich alter christlicher Antijudaismus mit rassistischem, "eliminatorischem" Antisemitismus. Irrationale Weltverschwörungstheorien gehen mit der Sündenbock-Diskriminierung jüdischer Mitbürger einher. Solche Auffassungen haben bei einer Minderheit auch nach der Herrschaft des Nationalsozialismus überlebt, und immer wieder haben sie sich auch in Gewalttaten Bahn gebrochen. So gab es etwa Brandanschläge auf Synagogen 1994 in Lübeck, im Jahr 2000 in Erfurt und 2010 in Worms und Mainz. Auch Schändungen jüdischer Gräber sind immer wieder zu beklagen.
In jüngster Zeit ist eine zunehmende Radikalisierung zu beobachten. Nicht nur, dass im Streit über die Flüchtlingspolitik mit pauschalen ausländerfeindlichen Parolen Politik gemacht wird; nicht nur, dass Kritik an Israels Siedlungspolitik mit antijüdischen Klischees vermischt wird. Es nehmen auch in ganz Europa antisemitische Straftaten und Schmähungen zu: Bedrohungen, Sachbeschädigungen in jüdischen Gemeinden oder Restaurants, antisemitische Propaganda, Verschwörungstheorien gegen reiche Juden wie den Investor und Mäzen George Soros, Hassbotschaften im Internet.
Die Angst vor zu viel Einwanderung lässt sich leicht umlenken
Laut verschiedenen Erhebungen lässt sich bisher nicht belegen, dass diese Zunahme des Antisemitismus und der Israel-Feindschaft sich allein auf die wachsende Einwanderung von Muslimen zurückführen ließe. Dass der Nahostkonflikt in Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Gruppen auch nach Deutschland "importiert" wird, lässt sich zwar nicht bestreiten. Doch gibt es auch genug hausgemachten deutschen Antisemitismus, nicht zuletzt in rechtsradikalen Zirkeln, die sich auch gewaltbereit zeigen.
Dass die Angst vor zu viel Einwanderung den Hass von Juden auf Muslime umlenkt, kommt diesen Zirkeln zupass, denn so lassen sich die beiden Ressentiments verquicken, ohne ineinander aufzugehen. Ob das Todesopfer in einem nahen Dönerladen in Halle tatsächlich eine Art Ersatzhandlung für die Tötung von Juden war, das lässt sich zu diesem Zeitpunkt der Ermittlungen noch nicht feststellen. Was aber schon feststeht: Der deutsche Lernprozess über den Antisemitismus ist jedenfalls nicht vorbei, er fängt mit dem Anschlag von Halle wieder von vorne an.