Gysi und die Ostpolitik:Nur eine Provokation

Lesezeit: 2 min

Gregor Gysi lenkt geschickt von den Problemen seiner eigenen Partei ab, wenn er von der Bundesregierung eine neue Ostpolitik fordert. Zuerst bräuchte die Linke mehr als den fragilen Kompromiss in der Außenpolitik, auf den sich Hardliner und Reformer auf dem Parteitag geeinigt haben.

Ein Kommentar von Thorsten Denkler, Berlin

Neue Ostpolitik. Das ist mal ein großes Wort. Die Ostpolitik gehört zur außenpolitischen Grundausstattung der SPD. Entworfen und umgesetzt von Willy Brandt und seinem Alter Ego Egon Bahr. Wandel durch Annäherung, das war die erfolgreiche Grundidee. Dazu gehörte vor allem, die Führungen der DDR und der Sowjetunion nicht länger als Feinde zu sehen, sondern mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Gregor Gysi forderte jetzt auf dem Bundesparteitag der Linken in Berlin eine neue Ostpolitik. Nicht von der Linken. Von der Bundesregierung. Eine Provokation ist das, mehr nicht.

Die Linke ist selbst gerade mitten in einem Prozess, ihr Verhältnis zum Osten Europas zu klären. Weg von der unverbrüchlichen Treue. Hin zu - vielleicht - einer kritischen Distanz. Zum Westen hat die Linke diese Distanz bereits. Der Bundesregierung trauen viele Linke mehr Übles zu als der russischen Führung.

Respekt vor gegenseitigen Interessen?

Mit der Haltung hat sich die Linke aus dem ernsthaften politischen Diskurs über die Ukraine-Krise verabschiedet. Lieber blieb sie auf einer außenpolitischen Insel, als sich aufs Festland zu begeben und dafür manche ihrer liebgewonnen Wohlfühl-Positionen zu hinterfragen.

Das immerhin hat sich mit diesem Parteitag geändert. Im gemeinsamen Antrag zur Ukraine-Frage manifestiert sich der Versuch einer differenzierten Haltung.

Eine neue Ostpolitik ist das aber noch lange nicht. Gysi selbst hat versucht, seine Idee kurz zu skizzieren: Diplomatie an erster Stelle, Respekt vor den gegenseitigen Interessen, wirtschaftlicher und kultureller Austausch.

Für harte Linke mag es ja geradezu revolutionär sein, Respekt vor den jeweiligen Interessen zu zeigen. Das würde auch bedeuten, die Interessen des Westens gegenüber Russland zu respektieren. Und sie nicht - wie bisher - als Kriegstreiberei zu diffamieren.

Genügend Gründe für eine neue Ostpolitik

Eine neue Ostpolitik ist kein schlechtes Ziel. Vielleicht ist sie sogar notwendig. Anders als zu Zeiten Willy Brandts und Egon Bahrs stehen sich nicht zwei harte militärische Blöcke gegenüber. Die Ukraine ist ein souveräner Staat - auch wenn das in Russland zum Teil anders gesehen wird. Moskaus Macht ist nicht mehr universell, sondern leitet sich vor allem aus militärischer Potenz und einer gewissen Kaltschnäuzigkeit Wladimir Putins ab.

Die Nato ist größer geworden seit dem Fall der Mauer - und ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in einer Sinnkrise. Die Europäische Union hat sich seit 1989 entwickelt, ist aber durch die Wirtschaftskrise und anhaltende Demokratiedefizite in größerer Erklärungsnot als je zuvor.

SPD streitet über Russland
:Heiliger Egon

In der SPD streiten aktive sowie legendäre Außenpolitiker über Russland. Jede Seite verlangt eine rationale Sicht, und jede versteht darunter etwas anderes.

Von Christoph Hickmann

Es gibt also genügend Gründe für eine neue Ostpolitik. Die Linke aber ist dafür noch die falsche Ratgeberin. Sie bräuchte selbst eine neue Ostpolitik. Der Kompromiss, der an diesem Wochenende zwischen Hardlinern und Reformern gefunden wurde, ist fragil, kann jederzeit wieder aufbrechen.

Gysis Aufgabe wäre es, den Kompromiss auch in der Bundestagsfraktion zur Grundlage der außenpolitischen Argumentation zu machen. Solange aber der Eindruck vermittelt wird, allein der Westen sei Schuld am Ukraine-Konflikt, solange ist die an einem frühen Sonntagmorgen auf einem Parteitag mal eben dahinformulierte Forderung nach einer neuen Ostpolitik kraft- und folgenlos.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: