Großbritannien und Hitler-Deutschland:Die Narren aus Downing Street

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Freundlichkeit vor dem Feind: Der britische Premier Neville Chamberlain begrüßt bei seiner Ankunft zu Gesprächen mit Adolf Hitler am 15. September 1938 vor dem Berghof auf dem Obersalzberg den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, General Wilhelm Keitel (links). (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Tim Bouverie zeigt eindrucksvoll, wie die Briten die Gefahren des NS-Regimes bewusst verharmlosten. Der Historiker verzichtet auf jede Rechthaberei. Trotzdem fällt sein Urteil vernichtend aus.

Rezension von Joachim Käppner

Mit Eton-Abschluss, Pokerface und Schnauzbart schien Sir Horace Rumbold manchen Landsleuten "so englisch wie Eier und Speck" zu sein, wie man von ihm sagte. Der britische Botschafter in Berlin war eine vornehme Erscheinung im Vergleich zu den neuen Machthabern im Deutschen Reich des Jahres 1933, deren Treiben Rumbold mit Widerwillen und kenntnisreich beobachtete.

Vor allem hatte er als einer von wenigen Diplomaten Adolf Hitlers Buch "Mein Kampf" gelesen und die Drohungen, die darin reichlich standen, zu Recht ernst genommen. Schon im April 1933 schickte er eine Denkschrift nach London: "Er beginnt mit Behauptungen, dass der Mensch ein kämpfendes Tier sei. Deshalb sei die Nation eine Gemeinschaft von Kämpfern. (. . .) Ein Land oder eine Rasse, die aufhört zu kämpfen, ist zum Scheitern verurteilt."

Münchner Abkommen
:Wie der Westen die Tschechoslowakei verraten hat

Im September 1938 opfern die westlichen Demokratien ihre Werte beim Deal mit Hitler - und feiern sich als Kriegsverhinderer. Winston Churchill widerspricht mit einer Rede, die einer biblischen Prophezeiung gleicht.

Von Joachim Käppner

Es war eine der klarsichtigsten frühen Warnungen vor dem bösen Geist, der Deutschland übermannt hatte und der nur acht Jahre später in Holocaust und Vernichtungskrieg führen würde. Rumbold erkannte, dass die Naziideologie Verständigung weder wollte noch erlaubte. Die Warnung war klug, präzise - und völlig wirkungslos.

Rumbold ging im Juli 1933 in den Vorruhestand, und seine Mahnungen waren in London sehr bald vergessen. Es begann nun die verhängnisvolle Ära der Appeasement-Politik der Westmächte gegenüber Hitlerdeutschland, jenes Kurses der Beschwichtigung, den der junge britische Historiker Tim Bouverie in seinem Buch "Mit Hitler reden" eindrucksvoll seziert (der englische Titel lautet, etwas passgenauer, "Appeasing Hitler").

Im Mittelpunkt stehen die Motive der Appeaser

Die Appeasement-Politik der Regierungen von Stanley Baldwin und Neville Chamberlain ist oft beschrieben worden, allerdings zumeist in ihren finalen Monaten des Scheiterns 1938/39 und als düsterer Hintergrund von Inkompetenz und Schwäche, vor dem der Stern ihres Intimfeindes Winston Churchill nur umso heller strahlte.

Historisch ist das korrekt, Churchill hatte von Beginn an gesehen, was die Appeaser nicht sahen, und vor Hitler und der Mordideologie der Nazis gewarnt, aber erst Glauben gefunden, als es beinahe zu spät war. Bouverie widmet seine Studie aber weniger dem Mann, an dem Hitler scheitern würde, sondern den Appeasern selbst, ihren Motiven, Beweggründen und Plänen von Anfang an.

Tim Bouverie: Mit Hitler reden. Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg. Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021. (Foto: N/A)

Sie selbst und manche späteren Historiker haben versucht, ihre Nachgiebigkeit in Bezug auf Hitlerdeutschland zu rechtfertigen. Das Deutsche Reich brach sämtliche Verträge, trat aus dem Völkerbund aus, rüstete hemmungslos auf, schickte Soldaten und Bomber in den spanischen Bürgerkrieg, besetzte 1936 das entmilitarisierte Rheinland, 1938 das Sudetenland und Österreich und unterdrückte brutal die Juden und jede Opposition.

All das ließen die Westmächte, die gegenüber der Weimarer Republik wenig Nachsicht gezeigt hatten, geschehen; im Münchner Abkommen 1938, einem Tag der Schande, opferten sie ihren eigenen Bündnispartner, die Tschechoslowakei; Chamberlain flog heim, von einer jubelnden Menge begrüßt, winkte er mit dem Papier des Vertrages und rief: "Frieden in unserer Zeit."

Das Urteil fällt vernichtend aus

Wie konnten die Demokratien, 1918 noch Sieger, so tief sinken? Großbritannien war nach dem Ersten Weltkrieg finanziell erschöpft und zutiefst kriegsmüde. Bouverie verzichtet auf jede Rechthaberei dessen, der das verheerende Ergebnis der Appeasement-Politik kennt und im Nachhinein Churchill recht gibt, "der nichts als Narrheit, Schwäche, Schande und Ruin darin sah", wie Sebastian Haffner in seiner grandiosen Churchill-Biografie von 1967 schrieb. Aber gerade wegen seiner methodischen Gründlichkeit fällt Bouveries Urteil mindestens genauso vernichtend aus.

Wer sich während der späten Trump-Ära wunderte, wie massiv die Demokratie der USA von der Selbstzerstörung bedroht war, sollte dieses Buch lesen. Trump kommt darin nicht vor, wohl aber eine Demokratie, die britische, die erst den Kompass der Realität und politischen Vernunft und dann beinahe ihre Seele und ihre Freiheit verliert.

Es sei, so das vernichtende, wenn auch mit britischem Understatement vorgebrachte Urteil Bouveries, "schwierig, für das Handeln der Appeasement-Befürworter und insbesondere für Neville Chamberlain mildernde Umstände in Anschlag zu bringen". Sprich: Sie haben auf ganzer Linie versagt.

Sie wollten den Charakter der Bestie verkennen

Sie verkannten, wie Rumbold es nannte, "den Charakter der Bestie" Naziregime nicht nur vollständig, sie wollten ihn auch verkennen. Es war nicht wahr, was nicht wahr sein durfte. Sie taten alles, um Warner und Mahner wie Churchill und Rumbold zu diskreditieren; die Tories wollten Churchill nach dem Münchner Abkommen aus dem Unterhaus drängen, und die BBC, treues Sprachrohr der Appeaser, weigerte sich noch kurz nach Kriegsbeginn 1939, Sir Horace Rumbold im Radio sprechen zu lassen, da er ein zu einseitiger "Nazi-Gegner" sei.

Die tschechische Tragödie hat schon Churchill in seiner legendären, seinerzeit als skandalös zurückgewiesen Unterhausrede in die passenden Worte gefasst. Die Tschechen hätten nichts als Not und Elend für ihr Bündnis mit den Demokratien erhalten: "Stumm, voller Trauer, verlassen, gebrochen, versinkt die Tschechoslowakei in der Finsternis." Die Tschechen, die deutschen Exilanten dort, die demokratisch eingestellten Sudetendeutschen, sie alle würden unter Hitlers Joch geraten, mit schrecklichen Folgen.

Im März 1939 besetzte die Wehrmacht das tschechische Kernland, für das Chamberlains Regierung eine Schutzgarantie ausgesprochen hatte. Davon wollte der Premierminister nun nichts mehr wissen. Die deutschen Truppen stiefelten bereits durch Prag, und Chamberlain ließ mitteilen, die Garantie sei leider erloschen, da der Staat, dem sie galt, ja leider nicht bestehe.

Auch hier sind Parallelen zur Gegenwart, wie Trumps Verrat an den Kurden Syriens, nicht zu übersehen. Trump machte sich noch lustig über die Kurden, die Appeaser ergingen sich in rassistischen Bemerkungen über die Tschechen.

Statt sich mit der Sowjetunion, dem eigentlichen Ziel der deutschen Eroberungsgelüste, zu vergleichen, hofften die Appeaser mehr oder weniger offen, Hitlers Reich möge den Kommunismus in Schach halten. Bouverie widerspricht der beliebten These, 1938 seien die Briten schon zu schwach gewesen, um die Wehrmacht noch zu stoppen: Sie waren schlecht gerüstet, die Deutschen waren aber auch "noch nicht in der Lage, einen großen Krieg zu führen". Sie hatten es aber geschafft, dies den Westmächten vorzugaukeln.

Es ist großartiges, kluges, übrigens auch mit der stilistischen Lässigkeit und Brillanz angelsächsischer Historiker geschriebenes Buch, eine beklemmende und zugleich lohnende Lektüre. Demokratien, so ist Bouveries Lehre, müssen sich immer neu erfinden, rückversichern, bewähren; sie sind nicht davor gefeit, durch Irrlehren in ihren eigenen Untergang zu steuern.

© SZ vom 15.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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