Großbritannien:Labour erobert Tory-Hochburgen

Lesezeit: 3 min

Labour-Chef Keir Starmer (re.) feiert am Freitag den Sieg seines Parteikollegen Alistair Strathern in Mid Bedfordshire. (Foto: Dan Kitwood/Getty)

Bei Nachwahlen zum britischen Parlament jagt die Partei den Konservativen die Wahlkreise Mid Bedfordshire und Tamworth ab. Labour-Chef Keir Starmer spricht von einem "politischen Erdbeben".

Von Michael Neudecker, London

Keir Starmer verließ sein Haus im Londoner Stadtteil Camden am frühen Freitagmorgen, als es noch dunkel war. Es sind nur etwas mehr als 70 Kilometer von Camden nach Mid Bedfordshire, wo der britische Oppositionsführer gut zwei Stunden später vor Wahlplakaten stand und unter dem lauten Jubel der Anwesenden sprach. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, Gerüchten zufolge hatte das weniger mit Starmers Erscheinen als der fortgeschrittenen Tageszeit zu tun. Die Stimmung an diesem Freitagmorgen in Mid Bedfordshire im Speziellen und in der Labour-Partei im Allgemeinen war allerdings so, dass man alles für möglich gehalten hätte. "Diese Nacht war eine unglaubliche", rief Starmer, später fielen Worte wie "historisch" und "politisches Erdbeben".

Am Donnerstag fanden zwei Nachwahlen in England statt, eine in Mid Bedfordshire, nördlich von London, und eine in Tamworth bei Birmingham. Beide Wahlkreise galten als "safe seats" für die Tories, in beiden Wahlkreisen hielten sie eine deutliche Mehrheit. Und in beiden Regionen stimmten die Wähler 2016 für den EU-Austritt, in Tamworth waren gar 68 Prozent für den Brexit. Nun aber gewann Labour Donnerstagnacht beide Wahlkreise.

In Mid Bedfordshire hatte Labour noch nie gewonnen, seit hundert Jahren ist der Wahlkreis Tory-blau. In Tamworth lag der "Swing" zu Labour bei knapp 24 Prozent, das ist der zweitgrößte Wählerwechsel in der britischen Nachwahlgeschichte. Tamworth (der Wahlkreis hieß bis Ende der 1990er-Jahre anders) ging erst ein Mal in knapp 150 Jahren nicht an die Tories, und zwar 1997. Damals gewann Labour in Tamworth - und mit Tony Blair auch die landesweiten Wahlen.

Ein Fingerzeig für die nächsten Unterhauswahlen?

Nachwahlen gelten oft als Indikator für "General Elections", und die nächsten Unterhauswahlen stehen ja schon im kommenden Jahr an. "Geschichte ist gerade dabei, sich zu wiederholen", sagte der renommierte Umfrageexperte John Curtice am Freitagmorgen in der BBC. Die Wahlbeteiligung war in Tamworth und in Mid Bedfordshire zwar niedrig, aber das sei nicht ungewöhnlich: In Tamworth 1997 sei sie sogar ähnlich niedrig gewesen. "Es ist dieselbe Botschaft am selben Ort", weshalb man verstehen könne, "dass sich einige Tory-Abgeordnete heute Morgen etwas unwohl fühlen", sagte Curtice. Mit Tamworth und Mid Bedfordshire sind es nun schon drei Nachwahlen seit Sommer dieses Jahres, in denen der Umschwung zu Labour bei mehr als 20 Prozent lag.

Das sei "natürlich enttäuschend", sagte Greg Hands am Freitagmorgen in den Nachrichtensendern, bemühte sich aber sonst, dem Ergebnis möglichst wenig größere Bedeutung beizumessen. Ob er sein Amt als Generalsekretär der Konservativen zur Verfügung stellen werde? Nein, sagte Hands, natürlich nicht, allerdings wurde ihm die Frage nicht ohne Grund gestellt. Das letzte Mal, dass die Tories in einer Nacht zwei Wahlkreise verloren, war vor einem Jahr. Danach trat der damalige Generalsekretär Oliver Dowden zurück.

Die Tories haben bereits sieben Wahlkreise verloren

Seit Sommer 2021 fanden bereits 19 Nachwahlen im Vereinigten Königreich statt, die Tories gewannen davon vier, verloren aber sieben Wahlkreise. In Mid Bedfordshire war bislang die frühere Kulturministerin Nadine Dorries die Tory-Abgeordnete, bekannt geworden auch als Teilnehmerin des "Dschungelcamps". Dorries trat zurück, weil sie mit Rishi Sunak als Premierminister nicht einverstanden ist, sie lässt kaum eine Gelegenheit aus, dies öffentlich zu betonen - für Dorries ist der als Lügner überführte und im Parlament in Ungnade gefallene Johnson "der beste Premierminister, den dieses Land je hatte". Das Ende von Boris Johnsons Amtszeit war im vergangenen Jahr nicht zuletzt durch den "Pincher-Skandal" eingeleitet worden: Der von Johnson lange gestützte Abgeordnete Chris Pincher musste wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung zurücktreten. Pincher war der Abgeordnete in Tamworth.

Newsletter abonnieren
:SZ am Sonntag-Newsletter

Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.

Die Umstände, die zu diesen Nachwahlen führten, müsse man berücksichtigen, sagte Greg Hands, die seien ja "etwas unglücklich" gewesen. Wenn man sich allerdings in der Partei umhört, findet man nicht viele, die diese Sichtweise teilen. Auf die Frage, ob er auf einen Wahlsieg im kommenden Jahr wetten würde, sagt ein Tory-Abgeordneter der SZ: Nein, lieber nicht. Den Optimismus, den gerade Hands und auch Premierminister Rishi Sunak - der sich derzeit wegen der Lage in Israel im Nahen Osten aufhält - zu vermitteln versuchen, teilen in der Partei nicht mehr viele.

Zumal bereits die nächste Nachwahl droht. In dieser Woche wurde der langjährige Tory-Abgeordnete Peter Bone suspendiert, nachdem ein Untersuchungsausschuss ihm nachgewiesen hatte, dass er einen jungen Mitarbeiter bedrängte, auch sexuell. Peter Bone ist seit 2005 Abgeordneter in Wellingborough, zwischen London und Birmingham. Bones Mehrheit in Wellingborough ist das, was man als "komfortabel" bezeichnet, eigentlich.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungGroßbritannien
:Der Labour-Chef hat kein Konfetti zu verteilen

Nach 13 Jahren will Keir Starmer seine Partei wieder in die Regierung bringen und hat sie dafür einer Mäßigungskur unterzogen. In den Umfragen funktioniert's.

Kommentar von Michael Neudecker

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: