Brexit:Großbritannien ist ein Stück weit unregierbar geworden

Die britische Politik hat sich in den vergangenen Monaten in abschreckender Weise extremistisch gebärdet. Aber einen ungeregelten Austritt darf es nicht geben.

Kommentar von Stefan Kornelius

So dramatisch die Niederlage für Theresa May ist: Magische Kräfte wird dieses Brexit-Votum nicht entfalten. Auch wenn die Mutter aller Abstimmungen für einen Moment die Luft in Westminster gereinigt hat, wird die Ernüchterung schnell einsetzen. Nach dem Votum ist vor dem Votum. Es gibt eben keinen Kleber, mit dem sich der in tausend Splitter zerfallene britische Politikbetrieb wieder zusammenfügen lässt.

Theresa May hat also eine brutale Niederlage erlitten, ihr Plan zur Umsetzung des Brexit-Wunsches der Bürger ist gescheitert. Aber: Die Premierministerin nimmt diese Niederlage als Teil der Inszenierung hin, um jetzt stoisch weiterzumarschieren. Aber wohin will sie eigentlich gehen?

Zwei Faktoren helfen ihr in ihrer Sturheit: Die Konservativen, ob nun Brexiteers oder Remainers, vereint die leidenschaftliche Abneigung gegen Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Also wird dessen Wunsch nach Neuwahlen wohl an der Mehrheit scheitern. (Ehrlicherweise werden Neuwahlen auch wenig an der verfahrenen Lage ändern, weil eine Labour-Regierung in den Vertragsverhandlungen genauso zerstritten wäre). Und zweitens hat sich unter all den Tory-Zwergen bisher keiner gefunden, der May überragt.

Dies ist die wichtigste, weit über das Votum hinausreichende Lehre des Brexit: Keine zündende Idee, keine knallige Rede, kein Wundertäter kann den Weg aus der Krise weisen. Der Austritt ist ein Prozess, ein zähes Verfahren, die langsame Verfertigung eines politischen Willens. Sowohl die Premierministerin wie auch die vielen Feuerköpfe im Parlament leben in der irrigen Annahme, dass sie ihre neu gewonnene Souveränität im freien Spiel der Kräfte austoben können. Das ist falsch. Politik braucht Mehrheiten, sie braucht den Kompromiss, sie braucht Ziel und Führung - ob sie nun innerhalb der EU oder außerhalb der EU betrieben wird.

Als wäre Westminster ein Spaßparlament

In Großbritannien hat die Volksentscheidung so viele Begehrlichkeiten geweckt, dass selbst zweieinhalb Jahre nicht ausreichten, um Mehrheiten zu finden und die klassischen Muster der britischen Parteienlandschaft aufzubrechen. Das System erweist sich als bemerkenswert widerstandsfähig. Weder hat sich eine neue Mehrheit oder gar eine neue Partei um einen moderaten Brexit-Konsens gebildet, noch schaffen es die alten Parteien, die Brexit-Strömungen zu kanalisieren. Die Marginalisierung der Macht der Premierministerin ist dafür bezeichnend. Der Brexit als grundstürzendes Ereignis der britischen Zeitgeschichte hat den Staat ein Stück weit unregierbar gemacht.

Britische Politik hat sich in den vergangenen Monaten in abschreckender Weise extremistisch gebärdet. Sie tat so, als wäre Westminster ein Spaßparlament und als würde lediglich ein Preis für den besten Orator vergeben. Tatsächlich aber geht es in Großbritannien seit zweieinhalb Jahren um fundamentale Fragen der Staatsorganisation, um die rechtliche, wirtschaftliche und politische Orientierung für 66 Millionen Menschen, um ökonomische Stabilität, Versorgung, Glaubwürdigkeit in der Welt und, ja, auch um dies: Krieg und Frieden. Der Bürgerkrieg in Nordirland ist Teil der Lebenserinnerung der meisten Menschen in Großbritannien und Irland. Wie eine derart prägende Erfahrung für eine Nation so leichtfertig missachtet werden konnte, bleibt ein Rätsel.

Rätsel Nummer zwei heißt: Welche Beziehungen zur EU versprechen sich die Austrittsfreunde eigentlich? Die EU-Staaten sind mit Abstand der wichtigste politische und ökonomische Partner Großbritanniens. Ein neuer Handelsvertrag wird dem Land Bindungen abverlangen, Kompromisse, die Einführung von Regeln. Was eigentlich spricht dagegen, diese Regeln nun zwei Jahre lang auszuverhandeln, so wie es May vorgeschlagen hat? Die Notfalllösung für Nordirland kann nicht Grund für den zähen Widerstand sein. Sie ist im Interesse der Iren beiderseits der Grenze - und auch im Interesse eines einigen Großbritanniens. Und sie lässt sich pragmatisch klären.

Es ist dieser radikale Mangel an praktischer Vernunft, der den britischen Politikbetrieb gerade kennzeichnet. Das Parlament hat Zeugnis davon abgelegt. Der Kreislauf der Unvernunft ist noch lange nicht durchbrochen. Sicher ist nur: Einen ungeregelten Austritt darf es nicht geben.

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