Es ist die klarste Niederlage, die eine britische Regierung jemals im Parlament erlitten hat: Am Dienstagabend stimmten 432 Abgeordnete gegen den Brexit-Vertrag, den Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hat, und nur 202 dafür. Mit dieser krachenden Niederlage steigt die Gefahr, dass die Briten die Europäische Union am 29. März ohne Abkommen verlassen.
May will sich bis Montag zum weiteren Vorgehen äußern. Doch bevor sie das tun kann, muss sie zunächst ein Misstrauensvotum der größten Oppositionspartei Labour überstehen, über das an diesem Mittwoch debattiert wird. Verliert die Regierung diese Abstimmung, gäbe es Neuwahlen. Allerdings gilt dies als sehr unwahrscheinlich, weil die konservativen Rebellen, die nun gegen Mays Brexit-Vertrag gestimmt haben, kein Interesse an Neuwahlen haben und May bei diesem Votum vermutlich unterstützen.
Gegen das Brexit-Abkommen stimmten nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch 118 der 317 Abgeordneten der regierenden Konservativen sowie die nordirische Unionistenpartei DUP, auf deren Unterstützung May angewiesen ist. Den Rebellen missfällt vor allem der sogenannte Backstop, eine Auffanglösung, die verhindern soll, dass jemals Zollkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland nötig sein werden. Die Brexit-Enthusiasten befürchten, dass diese Klausel ihr Land dauerhaft in einer engen Bindung an die EU gefangenhalten wird.
Kurz vor der Abstimmung hatte die EU May in einem Brief noch einmal versichert, dass Brüssel kein Interesse daran habe, diesen Backstop wirklich zu nutzen. Doch dieses Schreiben hat die Rebellen nicht überzeugt.
Hoffnung auf eine zweite Abstimmung
May könnte nun versuchen, in Brüssel eine stärkere Garantie herauszuhandeln. Sie kann das desaströse Resultat von Dienstagabend als Beleg dafür nutzen, dass der Vertrag in dieser Form keine Chance hat. Die EU könnte dann zum Beispiel ein sogenanntes "joint interpretative instrument" erstellen, eine rechtlich verbindliche Interpretationshilfe für den Vertrag. Passagen im eigentlichen Abkommen neu zu verhandeln, schließt Brüssel hingegen aus.
Die Premierministerin könnte den Vertrag danach ein zweites Mal zur Abstimmung stellen und hoffen, dass der näher rückende Austrittstermin und die neue Garantie aus Brüssel genügend Parlamentarier überzeugen. Die große Mehrheit der Abgeordneten quer durch alle Parteien lehnt schließlich einen Brexit ohne Vertrag ab. Denn ohne Abkommen würde die vereinbarte Übergangsphase wegfallen, in der sich für Bürger und Unternehmen bis Ende 2020 oder gar bis 2022 nicht viel ändern soll. Stattdessen würden Zölle und Zollkontrollen eingeführt; die Wirtschaft im Königreich und in der EU würde massiv leiden.
Parlamentarier könnten nach der Niederlage von Dienstagabend auch selbst Anträge mit Vorschlägen einbringen, wie es weitergehen soll. Manche würden ein neues Referendum fordern, manche einen Austritt ohne Vertrag, manche eine andere Form von Brexit. Doch für keine dieser Ideen ist eine Mehrheit absehbar. Diese Erkenntnis könnte es ebenfalls für May einfacher machen, im zweiten Anlauf eine Mehrheit für ihren Vertrag zu finden. Der hat immerhin den Vorteil, dass er die einzige Form von Brexit bietet, die mit der EU fertig verhandelt ist - nach quälend langen, mühsamen Gesprächen.
Ein Brexit-Aufschub bis Ende Juni sollte kein Problem sein
Es könnte allerdings auch sein, dass May nach dieser schlimmen Niederlage zum Ergebnis kommt, dass ihr Vertrag tatsächlich chancenlos ist. Dann müsste sie den Parlamentariern verkünden, dass sie das Resultat zur Kenntnis genommen habe und das Land nun für einen Austritt ohne Abkommen vorbereite. Da die große Mehrheit der Parlamentarier das verhindern will, könnte May alternativ Brüssel bitten, den Austritt zu verschieben, damit London mehr Zeit hat, die innenpolitische Blockade aufzulösen. Eine Verschiebung bis Ende Juni sollte kein großes Problem sein. Zwar stehen im Mai Wahlen zum EU-Parlament an, aber dieses tritt erst Anfang Juli zusammen.
Ist die Verschiebung bewilligt, könnte May Neuwahlen ausrufen oder freiwillig zurücktreten, damit die Konservativen einen neuen Parteichef und Premier bestimmen können - mit einer neuen Brexit-Politik. Zum Rücktritt zwingen kann die Fraktion sie nicht, weil May erst im Dezember eine Vertrauensabstimmung in der Fraktion gewonnen hat. Gemäß den Regeln der Partei schützt sie das zwölf Monate lang vor neuen Misstrauensbekundungen.
Doch ist es fraglich, ob ein freiwilliger Rücktritt zu mehr Klarheit beitragen würde. Die Konservativen sind über den Brexit-Kurs zutiefst zerstritten, und die Mehrheitsverhältnisse im Parlament würde so ein Schritt nicht ändern. Neuwahlen und eine mögliche Machtübernahme durch die Oppositionspartei Labour würden auch nicht unbedingt zu einem klaren, neuen Brexit-Kurs führen, denn die Sozialdemokraten sind sich ebenfalls uneinig. Das fällt bisher nur nicht so auf, weil sie nicht in der Regierung sind. Umfragen sehen Labour zudem hinter den regierenden Tories, trotz aller Brexit-Querelen. May hat versprochen, die Tories nicht wieder in eine Wahl zu führen - sie würde also vermutlich vor Neuwahlen abtreten. Aber sicher ist nur die Unsicherheit.