Großbritannien:Aufwind im Flügelstreit

Lesezeit: 3 min

  • Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn steht in der Kritik, weil er angeblich nicht genug gegen Antisemitismus in seiner Partei unternimmt.
  • Das Verhältnis der Sozialdemokraten zu jüdischen Verbänden ist so schlecht wie nie.
  • Die Querelen in der Oppositionspartei nutzen vor allem der Regierung von Theresa May.

Von Björn Finke, London

Das Foto zeigt ein Dutzend älterer Männer, die meisten mit dunklem Anzug und Krawatte. Vorne steht ein bärtiger Mann ohne Anzug, hemdsärmelig. Er schaut ernst und hält einen Trauerkranz. Dieser Mann ist Jeremy Corbyn, seit fast drei Jahren Vorsitzender von Labour, der größten britischen Oppositionspartei. Das Bild stammt von einer Gedenkveranstaltung auf einem Friedhof für sogenannte palästinensische Märtyrer am Rande von Tunis. Es wurde 2014 aufgenommen, bereitet dem Oppositionschef jedoch bis heute reichlich Ärger. Das konservative Blatt Daily Mail grub das Bild aus und druckte es auf der Titelseite. Denn auf diesem Friedhof ruhen auch Terroristen, die für die Ermordung elf israelischer Sportler bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München verantwortlich waren.

Corbyn steht in der Kritik, weil er nach Meinung vieler Kommentatoren und Abgeordneter nicht genug gegen antisemitische und israelfeindliche Äußerungen in der Labour-Partei unternimmt. Ende Juli veröffentlichten drei jüdische Zeitungen identische Leitartikel, in denen sie eine Corbyn-Regierung als "existenzbedrohend für das jüdische Leben" im Königreich bezeichneten. Dabei gelten Juden traditionell als Labour-Wähler. Doch weil sich die Sozialdemokraten seit Monaten mit Antisemitismus-Vorwürfen herumschlagen, ist das Verhältnis zu jüdischen Verbänden so schlecht wie nie.

Großbritannien
:Antisemitismus-Vorwürfe gegen Jeremy Corbyn

Israels Arbeitspartei setzt die Zusammenarbeit mit dem britischen Labour-Chef aus. Auch in Großbritannien steht er wegen Antisemitismus-Verdachts in der Kritik.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel-Aviv, und Cathrin Kahlweit, London

Labour profitiert kaum vom Chaos in der konservativen Regierung von Theresa May

Die Querelen bei der Oppositionspartei nutzen der Regierung von Theresa May. Ihre konservative Partei ist über den Brexit-Kurs zerstritten, die Verhandlungen mit Brüssel sind zäh. Außerdem läuft einiges schief im Königreich: Der Gesundheitsdienst NHS braucht dringend Geld, eine Pflegereform ist nötig, in den Gefängnissen herrschen üble Zustände. Der frühere Außenminister Boris Johnson erregte mit Witzen über verschleierte Muslima Empörung. Aber Labour profitiert kaum vom Chaos; in Umfragen geben Briten an, dass die glanzlose May immer noch die bessere Premierministerin sei. Unbeliebter als May zu sein ist keine kleine Leistung.

Der 69-jährige Corbyn sitzt seit 1983 im Parlament und fiel vor allem dadurch auf, dass er oft gegen die eigene Regierung stimmte, als Labour das Land führte. Zudem war Corbyn, nach eigenen Angaben ein demokratischer Sozialist, treuer Unterstützer von Befreiungsbewegungen und sozialistischen Regierungen weltweit. Auch das Schicksal der Palästinenser liegt ihm am Herzen. Vor drei Jahren wurde der Altlinke völlig überraschend von den Parteimitgliedern zum Vorsitzenden gewählt - ein Schock für die meisten Fraktionsmitglieder, denen Corbyn zu links ist.

Gemäßigte Sozialdemokraten argwöhnen, dass Corbyn die Moderaten aus Fraktion und Gremien verdrängen will. Es herrscht Dauerstreit zwischen den Flügeln. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass die Partei bei den vorgezogenen Neuwahlen im vergangenen Jahr überraschend gut abschnitt. Trotzdem können sich die meisten Briten - und viele Labour-Abgeordnete - keinen Premierminister Jeremy Bernard Corbyn vorstellen.

The Leader of Her Majesty's Most Loyal Opposition - Corbyns offizieller Titel als Oppositionsführer - kämpft auch sehr erfolgreich dagegen an, ein staatsmännisches Image aufzubauen. Viele kreideten ihm an, dass er nach dem Nervengiftanschlag von Salisbury zögerte, dem russischen Staat die Schuld zu geben.

Das Vorgehen im Streit um Antisemitismus überschattet Corbyns komplette Amtszeit als Parteichef. Für den ersten Skandal war Ken Livingstone verantwortlich. Der frühere Londoner Bürgermeister und langjährige Verbündete Corbyns sagte 2016 in einem Interview, Adolf Hitler habe den Zionisten in seinen ersten Jahren als Reichskanzler geholfen. Er verteidigte damit eine Labour-Abgeordnete, die wegen anti-israelischer Bemerkungen suspendiert worden war. Der Vorwurf des Antisemitismus sei bloß eine Waffe moderater Labour-Abgeordneter, um Corbyn und seinen Getreuen zu schaden, sagte Livingstone, der später aus der Partei austrat.

Die heikle Frage, welche Art von Kritik an Israel akzeptabel ist und welche Äußerungen antisemitisch und damit in jedem Fall inakzeptabel sind, wurde zur Konfliktmasse im Streit zwischen Labour-Flügeln. Jeremy Corbyn verurteilte öffentlich jede Form von Antisemitismus und versprach, Judenfeindlichkeit aus der Partei hinauszutreiben und die Beziehungen zu den jüdischen Gemeinden wieder zu verbessern. Doch Kritiker werfen ihm vor, nicht hart genug gegen jenen Antisemitismus vorzugehen, der im Deckmantel der Israelkritik daherkommt.

Kritiker sagen, Parteichef Jeremy Corbyn schütze Israelfeinde und Antisemiten

Die Parteiführung gab solchen Vorwürfen neue Nahrung - mit einer Entscheidung, die eigentlich Entschlossenheit zeigen sollte. Im Juli verabschiedete Labour Verhaltensregeln, in denen Antisemitismus verdammt wird. Für die Frage, was antisemitisch ist, bediente sich die Führung bei einer weltweit akzeptierten Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Allerdings verzichtete die Partei darauf, vier in dieser Festlegung genannte Beispiele zu übernehmen. Diese beschreiben Antisemitismus in Gestalt vermeintlicher Israelkritik - ausgerechnet. Labour argumentierte, der Verzicht garantiere, dass legitime Israelkritik möglich bleibe, ohne mit Parteiausschluss bedroht zu werden. Gegner sagen, der altlinke Palästinenserfreund Corbyn schütze Israelfeinde und Antisemiten. Der Kommentar auf den Titelseiten der jüdischen Zeitungen war eine Reaktion auf diesen Streit.

Labour lenkte ein und überarbeitete die Definition. Anfang September soll das Führungsgremium die neue Fassung verabschieden - inklusive aller Beispiele der Organisation IHRA. Eine Ergänzung soll klarstellen, dass Kritik an Israel trotzdem erlaubt ist.

© SZ vom 22.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Margaret Hodge
:Labour-Abgeordnete zieht Zorn der Parteispitze auf sich

Die 73-jährige Margaret Hodge nennt Parteichef Corbyn öffentlich einen "Rassisten und Antisemiten". Sie spricht damit aus, was viele Mitglieder der Partei denken. Nun läuft ein Disziplinarverfahren gegen sie.

Von Cathrin Kahlweit

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: