Wenigstens die Statistik kann noch beruhigen: Nein, die Welt befindet sich nicht in außergewöhnlich kriegerischen Zeiten; die Menschheit erlebt keine besonders gewalttätige Phase ihres Daseins. Selbst wenn in diesem Jahr die Zahl der Kriege gestiegen ist, so gehört das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer noch zu den friedfertigeren der Geschichte. Vor 20 Jahren wären die Menschen froh gewesen, hätten sie derart ruhige Tage erlebt. Zum Ende des Kalten Krieges ließen noch jährlich fast 300 000 Menschen ihr Leben in bewaffneten Konflikten. Selbst um die Jahrtausendwende waren es fast 200 000. Im Jahr 2013 starben dagegen 45 000 Menschen in Konflikten.
Aber die Statistik bietet keinen echten Trost, denn es ist der Trend, der Sorge bereitet: Die Zahl der Kriege und Konflikte steigt. Die Zahl der Toten auch. Und der schlimmste Krieg der Gegenwart - in Syrien und im Irak - lässt sich in seinen Abgründen nicht einmal richtig erfassen.
Stets die Ukraine, nun das Kurdengebiet im Irak neben Syrien, gerade noch Nahost, immer wieder Libyen, Pakistan, Nigeria - seit Monaten schlägt die Kriegstrommel ihren Furcht einflößenden Takt. Das rasante Tempo der Krisen, die Unmittelbarkeit der Information, das Grauen der Bilder berühren die Menschen überall. Die Verdichtung des Elends macht mürbe und führt zu Resignation oder - im anderen Extrem - zur Radikalisierung. "Tut doch was", heißt der Hilfeschrei an Regierungen und internationale Organisationen. Aber die demokratisch verfasste Politik, die westlichen Staaten, sind weitgehend hilflos angesichts der Zügellosigkeit und Rechtlosigkeit.
Der sichere Weg zum Unfrieden: autoritäres Gebaren und Gewalt
Dieses Gefühl der Ohnmacht darf aber nicht als Schwäche missverstanden werden. Denn die Weltgemeinschaft hat es in der Tat mit Konflikten zu tun, die sich aus neuen, bisher unterschätzten Kräften speisen und gegen die noch kein Mittel gefunden ist. Der Einsatz von Gewalt wird wenig nutzen. Klarheit verschafft wenigstens die Analyse, was genau die Welt in diesen Tagen erzittern lässt.
Das internationale Ordnungssystem aus der Zeit nach dem Kalten Krieg hat sich endgültig überlebt. Vier große Trends treiben stattdessen die Weltpolitik an. In der Kombination entwickeln sie ihre gefährliche, zerstörerische Kraft: Ethnische Splitterstaaten wie Russland retten sich in Nationalismus und gebärden sich autoritär, um sich zu behaupten. Post-koloniale Staaten werden durch einen bisher nicht gesehenen Gewaltfanatismus zerschlagen. Die westlichen Ordnungsmächte, vor allem die USA, ziehen sich aus der Welt zurück oder scheitern wie die EU an ihrer eigenen Schwäche. Und die Kräfte der Globalisierung - der weltumspannende Handel und die allgegenwärtige Kommunikation im Netz - schwingen die Peitsche dazu und verstärken so das Gefühl der Betroffenheit und Dringlichkeit. Noch nie war es so einfach, mithilfe weißer Lastwagen, abgeschlagener Köpfe oder durch Troll-Kommentare Furcht und Schrecken zu verbreiten.
Russland steht als Beispiel für den Zerfall von Splitterstaaten, die der Kalte Krieg zurückgelassen hat. Die Balkan-Kriege haben gezeigt, wie brutal sich dieser Zerfall abspielen kann. Gemessen daran hat sich die Sowjetunion und ihre einstmalige Einflusszone geradezu friedlich aus der Politik verabschiedet. Doch dieser Prozess scheint seit einigen Jahren eine unheilvolle Umkehr zu erleben.
Fedor Lukjanow, ein exzellenter Kenner des Präsidenten Wladimir Putin und ein kluger Analytiker, schrieb vor wenigen Wochen, nun werde "die letzte Runde des Kalten Krieges neu ausgetragen". Der Status als aufstrebende Großmacht genüge Russland nicht mehr, "das bisherige Entwicklungsmodell hat sich erschöpft". Deswegen gehe es dem Präsidenten nun darum, "entweder den Trend umzukehren und eine Aufnahme in den inneren Kreis der Großmächte zu erzwingen, oder erneut eine Art von konfrontativem Gleichgewicht herzustellen".