Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat sich zur Migrationspolitik geäußert und eine "neue Entschlossenheit" angemahnt. In der ZDF-Sendung "Berlin direkt" sprach Gauck sich dafür aus, "offen und einladend" zu bleiben. Zugleich rief er dazu auf, Sorgen in der Bevölkerung vor einem Verlust an Sicherheit und Überschaubarkeit ernst zu nehmen. Sonst drohe ein weiterer Rechtsruck.
Gauck verwies auf die Politik der Sozialdemokraten in Dänemark, die einen strikten Einwanderungskurs verfolgen. Da hätten sich viele erschrocken, gerade progressive Menschen. Es sei so aber gelungen, eine nationalpopulistische Partei unter drei Prozent zu halten. "Das heißt: Wir müssen Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen", sagte das frühere Staatsoberhaupt.
Er sei zu der Einsicht gelangt, "dass es vielleicht auch moralisch überhaupt nicht verwerflich ist und politisch sogar geboten, eine Begrenzungsstrategie zu fahren", sagte Gauck. Die Politik müsse erkennen, "dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausgereicht haben, um den Kontrollverlust, der offensichtlich eingetreten ist, zu beheben".
Der frühere Bundesspräsident bezieht damit in einer emotional aufgeheizten Debatte Position zugunsten derer, die die Zuwanderung stärker kontrollieren und begrenzen wollen. So forderte unter anderem der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in der Bild am Sonntag, eine "Integrationsgrenze von höchstens 200 000 Migranten".
Aus der Ampelkoalition aber auch aus der CDU gibt es daran deutliche Kritik. "Es funktioniert rein rechtlich nicht", sagte der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sebastian Hartmann, der Welt, "Was sollten wir denn mit dem 200 001. Menschen machen? Ihm die Prüfung auf das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Asyl verweigern?" Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke sagte der Augsburger Allgemeinen: "Die Forderung nach einer Obergrenze hat CDU und CSU schon einmal an den Abgrund geführt." 2017 hatte der Streit um eine Obergrenze bei der Zuwanderung die Unionsparteien monatelang gelähmt.
Auf Lampedusa kamen 5100 Menschen an einem Tag
Auch die Bundesregierung weist eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland erneut zurück. "Die einzige vernünftige Möglichkeit ist eine dauerhafte Steuerung und Ordnung im europäischen Rahmen", sagte der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner.
In der EU gibt es Bestrebungen, sich stärker gegen Migranten abzuschotten. So ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nach Lampedusa gereist. Die kleine, zu Italien gehörende Mittelmeerinsel steht schon lange im Fokus der Debatte. In der vergangenen Woche sind dort an einem Tag mehr als 5000 Flüchtende mit Booten angekommen. Die Zahl der Asylsuchenden in ganz Italien in diesem Jahr beträgt etwa 120 000.
Meloni, die eine Rechtskoalition anführt und auch in den eigenen Reihen stark unter Druck steht, will Migranten aus Afrika schärfer als bisher daran hindern, mit Booten nach Europa überzusetzen. Von der Leyen versprach ihr, sie dabei zu unterstützen und legte einen Zehn-Punkte-Plan vor. So soll etwa die Luftüberwachung im Mittelmeer verstärkt und die Küstenwache von Abfahrstaaten wie Tunesien aufgerüstet werden.
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums bekräftigte die Forderung an Italien, seinen Verpflichtungen im Rahmen des Dublin-Abkommens nachzukommen. Dann werde Deutschland auch wieder die Interviews zur Auswahl von Migranten im Rahmen des freiwilligen Solidaritätsmechanismus aufnehmen.
Deutschland hat sich im Rahmen dieses Solidaritätsmechanismus bereit erklärt, 3500 Flüchtlinge von besonders unter Druck stehenden Ländern - vor allem Mittelmeeranrainer - aufzunehmen. Laut Ministeriumssprecher fallen bislang 1800 Personen unter die Regelung, davon rund 1000 aus Italien. Bei den Dublin-Rücküberstellungen habe Italien hingegen seit Anfang des Jahres von 12 400 Übernahmegesuchen nur zehn Personen übernommen. Laut Dublin-Vertrag ist dasjenige Land für Asylverfahren zuständig, in dem Migranten in die EU eingereist sind.
Die Zahl der Asylbewerber, die nach Deutschland kommen, ist in diesem Jahr stark angestiegen. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellten von Anfang Januar bis Ende August etwa 204 000 Menschen erstmals einen Asylantrag in Deutschland. In der Bundesregierung gibt es deshalb Überlegungen über zusätzliche Grenzkontrollen und die Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsländer. Städte und Gemeinden haben wiederholt geklagt, dass sie angesichts der steigenden Zahlen an Grenzen geraten, was die Unterbringung, Versorgung und Integration Geflüchteter betrifft.