Frankreich:Die neue Lust auf Kompromiss

Lesezeit: 4 min

Werben, verhandeln, taktieren - das muss Frankreichs Premierministerin Élisabeth Borne nun vor allem. Ihre Regierung hat keine feste Mehrheit. (Foto: Bertrand Guay/AFP)

In ihrer kämpferischen Regierungserklärung lädt Premierministerin Borne die Opposition zum Mitmachen ein. Die Reaktion: ein Misstrauensantrag.

Von Thomas Kirchner, München

Zu anderen Zeiten wäre wenig Drama zu erwarten von dem Termin, den Élisabeth Borne am Mittwochnachmittag im Palais Bourbon hatte, direkt an der Seine. Eine neue Legislaturperiode beginnt, die Premierministerin trägt in der Nationalversammlung das Programm der Regierung vor, das heißt: vor allem des Präsidenten. Das ist eher ein Ritual, wenn die Regierung, wie meist, eine absolute Mehrheit hinter sich weiß.

Diese Mehrheit aber ging verloren in der jüngsten Parlamentswahl, weshalb es spannender wird in der französischen Politik und, vor allem für das Lager von Emmanuel Macron: anstrengender. Der Versuch, eine Koalition zu bilden nach deutschem Vorbild, etwa mit den bürgerlich-konservativen Républicains (LR), scheiterte. Es bleibt nur, als Minderheitsregierung ad hoc Mehrheiten zu suchen für einzelne Vorhaben. Die Frau an der Spitze muss also werben, verhandeln, taktieren, und das ohne sonderliche politische Erfahrung auf diesem Gebiet.

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Unter diesen Vorzeichen trat Borne vor die Abgeordneten, am späten Abend auch noch im Senat. An einem Tag, unmittelbar vor den Schulferien, an dem wegen eines Streiks bei der SNCF viele Züge nicht fuhren und in 24 Stunden mehr als 200 000 neue Covid-Ansteckungen registriert worden waren. Die 61-Jährige bat nicht, wie sonst üblich, das Parlament um dessen Vertrauen. Zu riskant, hieß es in ihrer Umgebung, und dass sie nicht die erste Regierungschefin sei, die auf diese Tradition verzichte.

Und doch trat sie nicht defensiv, sondern kämpferisch auf, entschlossen, nicht ohne ein Lächeln angesichts von ständigen Buhrufen und teilweise höhnischen Protesten von links wie rechts. Sie pries zunächst die "neue Regierungsmethode" an. Kooperation und Kompromiss heißt sie, nolens volens, oder "zusammen bauen für Frankreich" in Bornes Worten. "Ich möchte, dass wir dem Wort Kompromiss einen Sinn in unserer Politik geben", sagte sie. "Wir sind bereit, Vorschläge von allen Seiten anzuhören, darüber zu diskutieren und, wenn wir die Ziele und Werte teilen, unser Projekt auch zu ändern."

Beim Thema Kaufkraft könnte eine Kooperation klappen. Bei der Rentenreform wohl kaum

Vergleichsweise einfach könnte das noch beim Thema Kaufkraft gehen, das unmittelbar angegangen werden soll. Die Franzosen haben kollektiv das - von den Medien verstärkte - Gefühl, sich kaum noch etwas leisten zu können. Auch wenn die Inflationsrate dank Preisdeckelungen aktuell mit 5,8 Prozent deutlich niedriger ist als etwa in Deutschland. Man habe schon viel getan, werde nun aber weiteres vorschlagen, sagte Borne: einen Mietendeckel, die Verdreifachung der "Macron-Prämie", Senkung der Abgaben für Selbstständige, Hilfen für Arbeitnehmer und Studenten. Schon an diesem Donnerstag soll ein Gesetzesvorhaben zur Kaufkraft im Kabinett verabschiedet werden.

Präsident Emmanuel Macron bei der ersten Kabinettssitzung nach der Parlamentswahl. Neben ihm Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und Außenministerin Catherine Colonna. (Foto: Christophe Petit Tesson/Reuters)

Die Industriegesellschaft müsse ökologisch umgebaut werden, sagte Borne, das solle aber nicht auf Kosten des Wachstums gehen. Steuern werde ihre Regierung keinesfalls erhöhen. An der Abschaffung des Rundfunkbeitrags will sie festhalten und die Sender stattdessen aus Steuermitteln finanzieren. Auch hier gebe es Raum für Kompromisse.

Schwieriger wird es bei der Rentenreform, einem Herzensanliegen Macrons. Das Eintrittsalter soll auf 65 angehoben, Ausnahmen für Berufsgruppen sollen abgeschafft werden. Die Franzosen müssten länger arbeiten, das sei unerlässlich, sagte Borne. Man werde sich aber mit den Sozialpartnern und den Abgeordneten zusammensetzen, es gehe nicht nach der Methode "friss oder stirb". Hier hat vor allem die Linke, in Gestalt der neuen Allianz Nupes, keinerlei Kompromissbereitschaft angekündigt.

Ihr stärkster Teil, La France Insoumise (LFI), will fundamentale Opposition machen mit dem Ziel, die Regierung möglichst rasch aus dem Amt zu jagen, um nach Neuwahlen in einer noch stärkeren Position zu sein. "Wir sind die Opposition. Und die Opposition besteht aus Widerstand", schwört LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon seine Leute ein. Im September will er einen "Marsch gegen das teure Leben" auf die Straßen bringen.

Noch vor Bornes Rede hatte die LFI-Fraktion einen Misstrauensantrag eingebracht, um ein Zeichen zu setzen. Ihre Partner, Kommunisten, Sozialisten und Grüne, schlossen sich nach anfänglichem Zögern an; was nicht heiße, dass man das Parlament blockieren wolle, wie Sozialistenchef Olivier Faure zu Protokoll gab. Abgestimmt wird erst später, die nötige absolute Mehrheit ist nicht in Sicht, weil sich die politische Rechte verweigert.

Im Parlament sitzen jetzt viel mehr Extremisten

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Dort spielt man ein anderes Spiel. Rechtsaußen hält sich der Rassemblement National, um seine Seriosität zu beweisen, vorerst zurück, während sich die konservativen Républicains (LR) als konstruktiv-kritische Opposition zeigen wollen. "Es geht nicht darum, die Regierung zu stürzen oder einen politischen Coup zu landen", sagt Annie Genevard, die neue LR-Vorsitzende. "Welches Bild würden wir den Franzosen präsentieren?" Man wolle vor allem die eigenen Ziele in der Nationalversammlung erreichen.

Wobei die Ziele in sich nicht widerspruchsfrei sind. Einerseits fordert die Partei "ein Ende der Scheckheft-Politik". Andererseits schlug Fraktionschef Olivier Marleix in einem Brief an Borne vor, die Treibstoffsteuer zu senken, um den Benzinpreis bei 1,50 Euro pro Liter zu deckeln; die Arbeitgeberabgaben zu reduzieren und auf die jüngste Anhebung der Sozialsteuer für die Rentner zu verzichten - alles Maßnahmen, die viel Geld kosten. "Ein bisschen demagogisch, nicht sehr glaubwürdig", befindet ein interner Kritiker laut Les Échos .

Im Parlament ist nach den Wahlen der Anteil der Extremisten deutlich gestiegen. Auch deshalb wird das Regieren für die Mitte-Regierung schwieriger. Bei deren Neu-Bildung verzichtete Macron auf die üblichen Signale des Entgegenkommens, weil das vermutlich wenig gebracht hätte. Weder rechte noch linke oder grüne Schwergewichte wurden an Bord geholt, die Schlüsselfiguren bleiben die alten: Finanzminister Bruno Le Maire, Innenminister Gérald Darmanin, Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, Außenministerin Catherine Colonna. Der Notarzt François Braun wird Gesundheitsminister, Christophe Béchu ist künftig zuständig für den "ökologischen Wandel", als Ersatz für Amélie de Montchalin, die ihren Parlamentssitz verlor.

Neue Europaministerin wird die OECD-Chefökonomin Laurence Boone. Sie übernimmt von dem treuen Macron-Helfer Clément Beaune, der sich im undankbaren Verkehrsressort beweisen muss. Eine wichtige Rolle wird dem ehemaligen LR-Politiker und bisherigen Außenhandelsminister Franck Riester in den kommenden Monaten zukommen: Er ist zuständig für die Beziehungen zum Parlament.

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