Flüchtlingswellen aus Syrien:"Entweder du lässt alles zurück, oder du stirbst"

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Für viele Syrer ist die Flucht in die Nachbarländer die einzige Möglichkeit, sich vor den Männern Assads in Sicherheit zu bringen. Allein nach Jordanien sollen bereits 70.000 Syrer geflohen sein. Doch die Nachbarn helfern nur zögerlich, viele Flüchtlinge schaffen es nicht über die Grenze - und in der Türkei werden Probleme totgeschwiegen.

Nakissa Salavati, Friederike Zoe Grasshoff und Markus C. Schulte von Drach

Von seiner Hand ist nur ein Stummel geblieben: Der Fall eines verletzten Syrers, der in der Klinik von Amman Hilfe suchte, schockte sogar Antoine Foucher von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Gefängniswärter hätten einen Sprengsatz in seiner Hand explodieren lassen, berichtete ihm der Syrer. Er sei 15 Tage lang in einem Keller gefoltert, geschlagen und mit Elektroschocks traktiert worden, nachdem er gegen das Regime demonstriert habe. Der Mann ist einer von Zehntausenden, die vor der Gewalt der syrischen Truppen gegen Oppositionelle ins Nachbarland Jordanien flohen.

Erst einmal in Sicherheit: Syrische Flüchtlinge suchen in den Nachbarländern wie hier in Libanon Schutz. In Syrien müssen sie um ihr Leben fürchten. (Foto: REUTERS)

Foucher, der als Projektleiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Amman tätig ist, beobachtet seit drei Monaten, wie syrische Flüchtlinge mit Kriegsverletzungen in der Unfallchirurgie der Klinik in der jordanischen Hauptstadt eintreffen. Kopfverletzungen, Verbrennungen oder Knochenbrüche gehören zum Klinikalltag. Viele Vertriebene erzählen von grausamer Misshandlung durch das Assad-Regime: Im Gespräch mit der SZ berichtet Foucher von "allen möglichen Arten von Folter", deren Spuren er an den Körpern der Menschen aus Syrien gesehen habe.

Für viele Syrer ist die Flucht in die Nachbarländer Jordanien, Libanon und die Türkei der einzige Weg, sich vor den Gefechten in ihrer Heimat in Sicherheit zu bringen. Ein Vater, der mit seiner Familie in den Libanon geflüchtet ist, sagte der Nachrichtenagentur dpa: Es sei keine leichte Entscheidung gewesen. "Entweder du lässt alles zurück, was du besitzt und rettest deine Familie und Kinder, oder du bleibst und stirbst."

Eine Binnensicht auf die Situation in Syrien ist schwierig zu bekommen: Nach wie vor weigert sich das Regime in Damaskus, Visa an ausländische Journalisten auszustellen. Die Berichte der syrischen Flüchtlinge sind neben den verschwommenen Handyvideos auf Youtube und den knappen Botschaften auf Twitter oftmals die einzigen Quellen, die Informationen direkt aus dem Land liefern.

Allein nach Jordanien sollen sich nach Angaben der dortigen Regierung seit Beginn des Aufstands 70.000 Syrer geflüchtet haben. Dort kommen sie in Familien und Zeltstädten unter. Neben den Ärzten ohne Grenzen sind auch andere Hilfsorganisationen vor Ort. Maha Abu Shama recherchiert für Amnesty International Menschenrechtsverletzungen. Mitte Februar hat sie in Jordanien politische Flüchtlinge getroffen, die vorübergehend in Camps aufgenommen wurden. Sie alle hätten "schrecklichste Geschichten" erlebt, berichtet sie der SZ.

Schlimmste Fälle von Folter noch nicht bekannt

Die meisten verletzten Zivilisten schaffen es aber gar nicht bis in die Camps - sie scheitern an Grenzkontrollen. "Wenn die Menschen verletzt sind, werden sie automatisch vom Regime verdächtigt und von den Sicherheitsbeamten aufgehalten", sagt Foucher. Deshalb befürchtet er, "die schlimmsten Fälle" von Folter seien noch unbekannt. Im Osten, an der Grenze zu Irak, seien in den ersten Monaten der Proteste gegen Assad einige Flüchtlinge sogar von irakischen Grenzwächtern erschossen worden.

Nur wer es über die Grenze schafft, ist sicher. Doch auch die Situation in den Flüchtlingslagern ist für die Menschen zermürbend, sagt der freie Journalist Mohamed Amjahid zur SZ. Er hat die Flüchtlingscamps in der türkischen Provinz Hayat besucht: "Das Leben in den Zelten ist sehr hart", schildert er. Die Menschen frieren, es gebe keine Heizungen. Gleichzeitig hätten die Flüchtlinge ein großes Bedürfnis, über ihre Ängste zu reden: "Als ich im Zelt einer Familie saß, standen andere draußen Schlange, um mit mir zu sprechen." Amjahid zufolge kommen die Flüchtlinge aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten Syriens. Geflohen seien sie alle, weil sie zu Hause um ihr Leben fürchten mussten.

Trotzdem seien viele auch wieder in die Heimat zurückgekehrt. Offizielle Statistiken über Flüchtlingsströme in die Türkei gibt es nicht. Einem Bericht des türkischen Parlaments zufolge, so berichtet die FAZ, befinden sich derzeit 10.000 syrische Flüchtlinge im türkischen Grenzgebiet. Sie sind in sechs Zeltstädten untergebracht, in denen ihnen die Hilfsorganisation Türkischer Roter Halbmond die Grundversorgung zusichert. Diese Lager, so berichtet Amjahid, seien gut organisiert, auch habe Erdogan den Flüchtlingen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zugesprochen. Allerdings scheint die türkische Regierung vor allem darauf bedacht, zu demonstrieren, dass sie Herr der Lage ist: Probleme würden verschwiegen, sagt Amjahid.

Journalistenanfragen werden abgewehrt

Tatsächlich reicht Assads Einfluss über die türkische Grenze: So erzählt Amjahid, im Januar 2011 sei eines der Camps überflutet worden. Das syrische Regime habe aus "Rache" einen nahegelegenen Staudamm zerstört, die Zelte wurden einfach weggespült. Die Darstellung von offizieller Stelle lautete ganz anders: Die türkische Regierung tat den Vorfall als Folge starker Regenfälle ab. An Informationen kommt man kaum: Die Hilfsorganisation Türkischer Roter Halbmond, die die Flüchtlingslager betreibt, schweigt und verweist alle Anfragen von Journalisten ans türkische Außenministerium weiter. Und Menschenrechtsorganisationen erhalten keinen Zugang. Die Syrien-Aktivistin Maha Abu Shama von Amnesty International sagt im SZ-Gespräch, schon mehrfach habe sie Anfragen für einen Besuch in Hayat gestellt. Doch alle wurden abgewiesen.

Das sagt viel aus über die Situation an den syrischen Grenzen. Einerseits arbeiten die Nachbarstaaten mit humanitären Organisationen zusammen. Andererseits nutzen sie ihre Informationspolitik aber, um eigene politische Interessen durchzusetzen. Zum Beispiel Libanon, wo mit der Hisbollah und ihren Verbündeten eine Organisation an der Macht ist, die dem Regime in Damaskus nahesteht.

Die libanesische Regierung versucht offenbar, die Zahl der Flüchtlinge herunterzuspielen und zögert, Flüchtlingslager zu errichten. Doch erst am vergangenen Wochenende sei es zu einem Anstieg der Flüchtlinge gekommen, sagt Dana Suleiman vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) zur SZ. Eine genaue Zahl gibt es nach Angaben des UNHCR aber nicht, in Medienberichten ist die Rede von bis zu 2000 Menschen.

Bei Grenzverletzungen schaut Beirut weg

Das UNHCR ist derzeit noch dabei, sich einen Überblick zu verschaffen, was allerdings schwierig sei: Die Flüchtlinge kommen in den Hütten und Häusern der einheimischen Bevölkerung unter, so Suleiman. Die Helfer erfahren mal von 150 Flüchtlingen in einem Dorf, dann von 150 Flüchtlingen im nächsten. Bislang würden die Syrer von den Libanesen freundlich empfangen. Die meisten der Flüchtlinge seien Frauen und Kinder, sie gehörten zur sunnitischen Bevölkerungsmehrheit Syriens. Auch die Grenzregion in Libanon wird von Sunniten bewohnt, sie sympathisieren mit den Aufständischen in Syrien. Viele Syrer haben zudem in der Vergangenheit in Libanon gearbeitet und unterhalten deshalb noch gute Kontakte zu den Einheimischen.

Doch syrische Oppositionelle fühlen sich auch in Libanon nicht sicher: Sie fürchten den Einfluss Assads. Denn die Regierung in Beirut hat bei den Grenzverletzungen der syrischen Armee schon mehrfach weggeschaut: Erst im vergangenen September hatten Assads Soldaten in der libanesischen Grenzregion das Feuer auf Flüchtlinge eröffnet.

Mit Material von Reuters, AFP und dpa.

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