Schaumig weiß brandet die Gischt, das Mittelmeer schimmert blaugrün, am Strand knirscht feiner rötlicher Sand unter den Füßen. Die Bucht von Garabulli, nicht weit von Tripolis, könnte ein Ferienparadies werden, nur 700 Kilometer von Sizilien entfernt; Castelverde nannten die Italiener den Ort.
Zwei Männer, Schwarzafrikaner, wie die meisten Arbeiter in Libyen, mähen Rasen in dem kleinen Resort: Hütten mit Meerblick, zwei Schlafzimmer. "200 Dinar pro Nacht", sagt der libysche Eigentümer, 70 Euro inklusive Frühstück. Er hofft, dass im Sommer ein paar Gäste kommen, zumindest Libyer, fürs Wochenende. Deswegen richtet er den Speisesaal her, die Lampen im Garten.
Derzeit trifft man an diesen Stränden keine Touristen, nur Migranten, die meisten aus Ländern südlich der Sahara. Seitdem die Balkanroute in Europa dicht ist, kommen aber auch wieder Syrer. In Schlauchbooten libyscher Schlepper werden sie sich auf die gefährliche Reise nach Europa machen, im Schutz der Dunkelheit am frühen Morgen. Zehntausende warten auf die Überfahrt, vielleicht Hunderttausende. Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande warnten, Libyen könne zum Ausgangspunkt einer neuen Migrationsbewegung werden. Das war am Donnerstag.
Der Qualm soll den Gestank der Verwesung überdecken
Der Wind zerrt an den rot-schwarz-grünen Fähnchen mit dem weißen Halbmond und einem Stern, die an den Laternen im Garten des Resorts flattern. Noch sind die Wellen so hoch, dass sich oft nicht einmal die Fischer aufs Meer trauen. Doch die ersten Flüchtlingsboote fahren schon. Kleine Schlauchboote bringen die Menschen ein paar Hundert Meter aufs Meer hinaus, dort steigen sie in größere Boote um, meist ebenfalls aus Gummi. Mindestens 80 Menschen pferchen die Schlepper darauf, manchmal 120. Größere Boote werden mit 300 Menschen und mehr beladen. Und mit jedem Tag, den der Sommer näher rückt, werden das Wetter und die See ruhiger.
Der Wind treibt beißenden Qualm von brennendem Müll herüber. Am Strand, ein paar Meter die Böschung hinunter, wird klar, warum sie den Abfall in dem alten Ölfass angezündet haben: Schalungsplatten liegen dort, mit denen die Schlepper den Boden der Boote verstärken, damit sie mehr Menschen tragen. Graues Plastikgewebe, die Überreste eines Gummiwulstes, umspült vom Wasser, zerrissen von den Felsen, die aus dem Sand ragen. Vier Leichensäcke aus schwarzer Plastikfolie liegen im Sand. Der Rauch soll den stechend süßlichen Gestank der Verwesung überdecken. Vier Flüchtlinge, die schon vor zehn Tagen hier angespült wurden. Niemand weiß, wer sie sind oder woher sie kamen.
"Wenn es genug Jobs in Nordafrika gibt, geht niemand mehr nach Europa"
Kaum einer der Toten trägt noch Dokumente bei sich, wenn das Meer die Körper wieder ausspuckt. Auf den Namensschildern der Leichensäcke stehen nur Datum und Ort, an dem sie gefunden wurden. Die Leichenhäuser in Garabulli sind voll, die in Tripolis auch, wie ein Mitarbeiter des Roten Halbmonds am Telefon bestätigt. "Was sollen wir machen?", fragt er. In Libyen herrscht ohnehin Chaos. Zumindest sollen die Fingerabdrücke der Toten und ihre DNA gesichert werden, damit sie später identifiziert werden können. Es dauert, bis sie bestattet werden. Und solange liegen die Leichen am Strand.
Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) sagt, 200 000 Migranten warteten in Libyen auf die Überfahrt nach Europa; Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hält die Zahlen "eher für zu niedrig gegriffen". Worauf sie ihre Schätzungen stützen, sagen sie nicht. Nach allem, was bei deutschen Behörden, westlichen Geheimdiensten und internationalen Organisationen in Erfahrung zu bringen ist, sind solche Zahlen kaum mehr als Spekulation. Belastbare Prognosen lassen sich nicht treffen.
Migranten werden nicht erfasst, wenn sie auf dem Landweg von Süden aus Niger oder Tschad nach Libyen kommen oder das Land wieder verlassen. Ali etwa, ein 35 Jahre alter Nigerianer, der in Libyen auf diesen arabischen Namen hört, hat nicht einen Stempel in seinem Pass, obwohl er die 5000 Kilometer lange Reise von Lagos durch Niger und die libysche Wüste schon drei Mal in den vergangenen fünf Jahren hinter sich gebracht hat. Er ist jedes Mal zurückgekehrt für ein paar Monate zu seiner Frau und den beiden Kindern. Geld kann er im Moment keines schicken, Western Union und die Banken funktionieren nicht.
Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) hielten sich Ende 2015 etwa eine Million Migranten in Libyen auf, vor Beginn des Bürgerkriegs 2014 waren es noch doppelt so viele. Der Ölreichtum des Landes zog Jahrzehnte lang Menschen aus dem Süden an, die Arbeit suchten. Wie viele von ihnen trotz der schlechten Sicherheitslage in Libyen arbeiten wollen, geht daraus nicht hervor.
Mindestens 600 000, womöglich aber auch 800 000 sollen Ägypter sein, die eher in ihre Heimat im Nachbarland zurückkehren dürften, als nach Europa zu reisen. Für die Menschen aus Nigeria, Gambia, Ghana und anderen westafrikanischen Staaten hängt viel von der Entwicklung in Libyen ab, ebenso wie für Somalier, Sudanesen oder Eritreer, die von Osten kommen.
Schwarzafrikaner werden in Libyen regelmäßig Opfer von Rassismus und Gewalt. "Ich bin zwei Mal von Libyern überfallen worden", sagt Ali. Sie nahmen ihm das Handy ab und das Geld, mitten in Tripolis. Zur Polizei kann er nicht gehen, weil er keine Papiere hat. Am Morgen erst haben Beamte zwei Freunde inhaftiert, erzählt er. Sie waren auf dem Weg zu einem Markt, um einzukaufen; freitags haben sie frei. Kaum einer hat eine Aufenthaltsgenehmigung, die einzige Hoffnung ist, sich aus den Fängen der Polizei herauszukaufen.
Sonst enden sie in den berüchtigten Internierungslagern, die total überfüllt sind. Oft gibt es nicht einmal genug zu essen und zu trinken, keine Toiletten oder Duschen. Misshandlungen sind auch hier üblich. Betrieben werden die Camps zum Teil von der Regierung oder den lokalen Behörden, manche aber auch von Milizen, die am Menschenschmuggel verdienen.
In Lagos kostet das direkte Ticket nach Europa 3000 Dollar
"Du kannst hier immer noch gutes Geld machen", sagt Abdulmalek, 48, ebenfalls aus Nigeria. Er ist seit 1996 in Libyen und arbeitet als Elektriker. "Wenn es genug gute Jobs in Nordafrika gibt, geht niemand mehr nach Europa", prophezeit er, der inzwischen selbst Teil des Schlepper-Netzwerks ist. Drei Viertel seiner Kunden würden allerdings derzeit das direkte Ticket nach Europa buchen, sagt er. Es kostet 3000 Dollar, die Reise nur nach Libyen 1200 Dollar, die Überfahrt nach Europa alleine zwischen 800 und 1200 Dollar, alles einzuzahlen auf sein Konto in Nigeria.
"Wenn wir uns über den Preis geeinigt haben, gebe ich dem Kunden eine Handynummer", erklärt Abdulmalek, der Jeans und T-Shirt trägt und sich nur im Auto unterhalten will, obwohl er echte Papiere hat - allerdings gekaufte. Ein Anruf, und seine Kunden sind auf dem Weg nach Niger, ein Visum brauchen sie nicht. "Immer montags starten sie dann zum Trip durch die Wüste", sagt Abdulmalek. Von Agadez, im Norden Nigers, fährt ein Konvoi "mit mindestens 150 Toyota Hilux"; jeder Pick-up transportiert 20 bis 30 Menschen auf der Ladefläche. "Der Grenzposten kriegt 20 Dinar pro Kopf, und wehe, du hast das Geld nicht", sagt Abdulmalek. "Dann wirst du grausam geschlagen."
Kaum eines der Boote könnte es tatsächlich bis nach Italien schaffen
Wie viele Menschen auf diesem Weg sterben, ist nicht bekannt. Nicht viele, sagt Abdulmalek. Migranten berichten dagegen von Misshandelten, von Verdursteten, die Schlepper ließen sie am Wüstentreck liegen. "Am Donnerstag sind sie schon in Tripolis", sagt Abdulmalek.
Wer den Trip nach Europa gebucht hat, wird in sicheren Häusern versteckt, von Fahrern an den Strand gebracht. "Sie geben ihnen einen Kompass, ein Satellitentelefon und genug Sprit, um internationale Gewässer zu erreichen", sagt Abdulmalek. Dort setzen sie einen Notruf ab in der Hoffnung auf Rettung durch Schiffe der Italiener, der EU. "Übergabe an der Zwölf-Meilen-Grenze", nennt es ein mit Libyen befasster Diplomat. Kaum eines der Boote kann es nach Italien schaffen.
Alle wissen um die Gefahren. "Wenn du keine Risiken eingehst, wirst du nie die Millionen genießen", zitiert Abdulmalek eine nigerianische Lebensweisheit. "Und jeder will Millionär werden." Auch Ali träumt davon. Im Juli oder August will er fahren. Sein Bruder ist schon in Europa. "Dann werde ich frei sein", sagt er und lacht. Natürlich hat er von kenternden Booten gehört. Von den 340 Toten auf dieser Route allein in diesem Jahr. "Eines Tages musst du sterben", sagt er. Als er nach Libyen reiste, habe er auch nicht gewusst, ob er überleben würde. "Man kann nicht immer nur vor allem Angst haben, man muss sich bewegen. Ich vertraue auf Gott!", sagt er und verabschiedet sich. Er muss zum Freitagsgebet.