UNHCR-Bericht zu Flüchtlingen:Als wäre ganz Frankreich auf der Flucht

  • 70,8 Millionen Menschen hat das UNHCR 2018 als Flüchtlinge, Vertriebene oder Asylbewerber gezählt - das ist die höchste Zahl seit Einrichtung der Organisation 1950.
  • Mehr als die Hälfte der Vertriebenen bleibt im Heimatland, von den übrigen leben etwa 26 Millionen in Nachbarländern.
  • Ein Drittel hat in den ärmsten Ländern der Welt Zuflucht gefunden. Nur neun Prozent der Flüchtlinge weltweit haben die EU erreicht.

Von Markus C. Schulte von Drach

37 000 Menschen sind 2018 an jedem einzelnen Tag aus ihrem Heimatort vertrieben wurden - fast einer alle zwei Sekunden. Diese Zahlen stammen vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), und sie sollen helfen, sich das Ausmaß der gegenwärtigen weltweiten Flüchtlingskatastrophe vorzustellen. Denn wie der Weltflüchtlingsbericht "Global Trends", der heute in Berlin vorgestellt wird, belegt: Die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, hat eine neue Höchstmarke erreicht.

70,8 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Asylbewerber hat das UNHCR im Dezember 2018 gezählt, 2,3 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Es ist der höchste Wert seit Gründung der Organisation 1950. Die Zahl der Menschen, die vor Krieg oder Elend geflohen sind, hat sich demnach innerhalb von 20 Jahren verdoppelt.

Es ist, so berichtet das UNHCR, als wäre die gesamte Bevölkerung von Frankreich oder Großbritannien auf der Flucht. Und jeder zweite Flüchtling ist jünger als 18 Jahre.

Die meisten Menschen, die ihren Heimatort verlassen, kommen allerdings über die Grenze ihres Landes gar nicht hinaus: 41,3 Millionen Menschen sind sogenannte Binnenvertriebene.

Etwa eine halbe Million sind im vergangenen Jahr dagegen über die Grenze geflohen. Damit befinden sich nun insgesamt 25,9 Millionen außerhalb ihres Heimatlandes.

Vier von fünf dieser Flüchtlinge schaffen es allerdings nur bis in ein Nachbarland. Und dabei handelt es sich in der Regel nicht um wohlhabende Industriestaaten. Ein Drittel der Flüchtlinge haben in den ärmsten Ländern der Welt Zuflucht gefunden, obwohl diese lediglich 13 Prozent der Weltbevölkerung stellen und ihr Anteil des wirtschaftlichen Gesamtvolumens der Erde gerade einmal 1,25 Prozent ausmacht. Ihre Heimat teilen also vor allem jene mit Flüchtlingen, die selbst schon wenig haben.

Auch im vergangenen Jahr habe es phantastische Beispiele von Großmut und Solidarität, gerade von Gemeinschaften gegeben, die schon einer großen Zahl von Flüchtlingen Schutz gewähren, sagte Filippo Grandi, Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, bei der Vorstellung des Berichts. Hier lobte er allerdings auch ausdrücklich die Deutschen: Sie verweigerten Menschen in Not nicht ihre Hilfe und ihren Schutz, und die Integration mache große Fortschritte.

Zu den Geflüchteten zählt das UNHCR auch 3,5 Millionen Asylbewerber, die noch nicht anerkannt sind. Ein kleiner Teil davon schafft es immer noch bis in die Europäische Union. Hier leben allerdings gerade einmal neun Prozent der Flüchtlinge weltweit.

Auch nach Deutschland kommen immer noch Flüchtlinge, allerdings sind es inzwischen deutlich weniger als in den Vorjahren: 2018 haben fast 162 000 Menschen einen entsprechenden Erstantrag gestellt. 2017 waren es noch etwa 198 300, im Jahr davor sogar fast 722 400.

Die meisten Asylbewerber kommen immer noch aus Syrien, und sie haben auch relativ gute Chancen, als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Von den etwas mehr als einer Million Menschen, die diesen Status in Deutschland inzwischen besitzen, ist etwa die Hälfte vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. Weitere Flüchtlinge stammen vor allem aus dem Irak, aus Afghanistan, Eritrea und Iran. Aber auch Tausende Flüchtlinge aus der Türkei und sogar aus Russland sind inzwischen anerkannt worden.

"Die Daten unterstreichen, dass die Zahl der vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehenden Menschen langfristig steigt", sagte Hochkommissar Filippo Grandi. Dabei hat die Zahl der Konflikte in den vergangenen Jahren selbst eher nicht zugenommen, wie das "Konfliktbarometer" des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung zeigt.

Doch während es mancherorts - etwa in Europa, Asien und Teilen Afrikas - friedlicher geworden ist, sind manche Konflikten eskaliert, und in Syrien, in Jemen, Afghanistan, Libyen, Somalia und etlichen weiteren Ländern finden weiterhin heftige Kämpfe statt.

80 Prozent fliehen vor lang anhaltenden Konflikten

Tatsächlich kommen etwa 80 Prozent der Flüchtlinge aus Gebieten, in denen die Menschen schon seit mindestens fünf Jahren - teils sogar schon seit 20 Jahren - unter Kämpfen oder Konflikten leiden.

Wie sehr Menschen auch unter einem politischen Chaos und einer schlechten wirtschaftlichen Lage leiden können, zeigt sich derzeit in Venezuela. Dort ist es zur größten Fluchtbewegung in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas gekommen. Venezolaner stellen mit fast 342 000 Betroffenen die größte Zahl neuer Asylbewerber.

Doch das UNHCR hat nicht nur schlechte Nachrichten. Fast 594 000 Flüchtlinge konnten im vergangenen Jahr in ihre Heimat zurückkehren. 62 600 haben eine neue Heimat gefunden - sie sind Staatsbürger des Landes geworden, in das sie geflüchtet sind. Und sieben Prozent der Härtefälle, für die der UNHCR ein sicheres Aufnahmeland sucht, konnten an einem entsprechenden "Resettlement"-Programm teilnehmen.

Zwar sei die Sprache, wenn es um Flüchtlinge und Migranten gehe, oft vergiftet, sagt Hochkommissar Grandi. Man sehe aber auch ein "beispielloses Engagement von neuen Akteuren wie Entwicklungshilfeorganisationen, der privaten Wirtschaft und von Einzelnen". Auf solchen Beispielen müsse man aufbauen und die Solidarität für die vielen Tausenden, die jeden Tag vertrieben werden, verdoppeln.

"In jeder Notsituation muss das Ziel immer sein, dass der Flüchtling wieder nach Hause zurückkehren kann", so Grandi. Eine Lösung könne es aber nur geben, wenn alle Länder zusammenarbeiten. "Das ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit."

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