Das Politische Buch:Was zur Flucht bewegt

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Europa für Neuankömmlinge: Das Flüchtlingslager "Kara Tepe" auf Lesbos. Das provisorische Zeltlager war 2020 in Windeseile errichtet worden, nachdem das ursprüngliche Lager Moria bei einem Großbrand fast völlig zerstört worden war. (Foto: Panagiotis Balaskas/dpa)

Die Reporterin Isabel Schayani sucht nach den Motiven von Geflüchteten und kommt ihren Protagonisten sehr nah. Den Sehnsuchtsort Deutschland haben sich aber alle ganz anders vorgestellt.

Rezension von René Wildangel

Seit 2015 schafft es die WDR-Journalistin Isabel Schayani, die Menschen hinter der sogenannten Flüchtlingskrise sichtbar zu machen und individuelle Schicksale in den Mittelpunkt ihrer Reportagen zu stellen. Das tut sie auch in ihrem Buch "Nach Deutschland". Sie porträtiert fünf Menschen, denen sie dort begegnete, wo das europäische Versagen gegenüber schutzbedürftigen Geflüchteten am deutlichsten wird: auf der Balkanroute, in Calais oder in Moria.

Schayani will die Motive und Zwänge der Menschen auf der Flucht ebenso verstehen wie den mitunter komplexen rechtlichen und politischen Kontext. Vier ihrer Protagonisten stammen aus Iran und Afghanistan, dass Schayani Persisch spricht (mit deutschem Akzent, wie sie bekennt), öffnet ihr die Möglichkeit, mit ihnen direkt zu kommunizieren. Die Begegnungen sind von journalistischer Neugier getrieben, aber immer warmherzig und mitfühlend. Über Jahre hinweg hielt sie mit den porträtierten Menschen Kontakt.

Das ist wichtig, denn Geflüchtete erzählen, verständlicherweise, den oft unter Zeitdruck arbeitenden Krisenreportern nichts wirklich Privates. Aufgrund des Vertrauensverhältnisses mit den porträtierten Menschen erfahren wir hier aber sehr viel über sie. So wie im Falle Safis, eines jungen Afghanen. Schayani erzählt er Details über das Martyrium, das er in Afghanistan, aber auch als Geflüchteter in Iran erleben musste. Ausführlich schildert Schayani, wie die etwa 3,5 Millionen afghanischen Flüchtlinge in Iran systematisch ausgebeutet, rassistisch diskriminiert und missbraucht werden.

Einzelne Menschen treten aus der Anonymität der Masse

Doch einen Teil seiner Geschichte erzählt er der Journalistin erst nach mehreren Treffen: dass er sich auf der Flucht schwer verliebt hat. Nur weil das Mädchen mit ihrer Familie nach Deutschland will, schlägt er dasselbe Ziel ein. Aus ihrer journalistischen Sicht, hält Schayani fest, habe sie "die persönlichen Gründe, das Herz, die Sehnsucht bei einer Flucht unterschätzt". In der öffentlichen Wahrnehmung kommt sie erst gar nicht vor.

Schayani lernte Safi 2018 in einer grauenvollen Situation kennen. Grenzbeamte hatten ihn in Kroatien aufgegriffen und prügelten so lange auf seine Füße ein, bis er nicht mehr laufen konnte. Schayani traf ihn kauernd in einer leer stehenden Fabrikhalle, wo Hunderte Menschen bei null Grad ausharrten. Aber das war nur der Tiefpunkt seiner Flucht über die Balkanroute, die von physischen Leiden, Hunger, kriminellen und unzuverlässigen Schleppern, Deportationen, Verhaftungen und Polizeigewalt geprägt ist. Das System der Zurückweisungen, der "Pushbacks" und der systematischen Gewalt bis hin zu Folter seitens europäischer Grenzpolizisten in Kroatien und Griechenland ist mittlerweile durch zahlreiche Berichte gut dokumentiert, auch Schayani hat darüber immer wieder berichtet. Geändert hat sich an der Situation bis heute nichts.

Nach den tödlichen Risiken folgt oft Enttäuschung

Während deutsche Politiker auch aktuell wieder über "effektivere" Abschiebungen, Zuwanderungsstopp oder eine "Ende des Familiennachzugs" sinnieren, zeigt Schayani, welchen Horror solche Floskeln bei den Schutzbedürftigen und schwer traumatisierten Menschen auslösen - und wie die Realität von Menschen aussieht, die tödliche Risiken auf sich nehmen, um unterschiedliche Wege, aber ein Ziel anzusteuern: Deutschland, ein für sie oft völlig verklärter Sehnsuchtsort, der wenig zu tun hat mit der Realität aus monate- oder jahrelangen Asylverfahren mit ungewissem Ausgang, Flüchtlingsheimen, drohender Abschiebung. Als Safi in Deutschland ist, fällt er in ein tiefes Loch. Seine große Liebe hat sich abgewendet.

Happy Ends gibt es in den Geschichten, die Schayani aufschreibt, selten. Höchstens Lichtblicke, Akte der Solidarität, mutige Helfer. Der Iraner Omid schafft es mit seiner Tochter Nika im Kleinkindalter zwar unter größten Mühen schließlich vom berüchtigten "Dschungel" von Calais nach England, nur um dann in den Wirren des Asylsystems zu versinken, das einen Neustart unmöglich macht. Oder Ruhi, ein Bahai aus Iran, der trotz grausamer systematischer Verfolgung zunächst in Deutschland keinen Asylstatus zuerkannt bekommt. Fast alle Menschen, die sie trifft, sind schwer traumatisiert angesichts der Verfolgung in der Heimat, aber auch durch die Leiden auf der Fluchtroute, depressiv, teilweise suizidgefährdet.

Isabel Schayani: Nach Deutschland. Fünf Menschen, fünf Wege, ein Ziel. Verlag C.H. Beck, München 2023. 319 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Die Geschichte der kleinen Malika geht besser aus; das mutige Mädchen aus Herat in Afghanistan entkommt einem weiteren berüchtigten Fluchtort, dem griechischen Lager Moria auf Lesbos. Sie kann mit ihrer Familie nach Luxemburg ausreisen, weil Außenminister Asselborn nach Schayanis TV-Reportagen über Moria Kontakt aufnimmt. Schließlich erzählt Schayani noch eine Fluchtgeschichte aus der Ukraine; inklusive der Frage nach der Hierarchie von Geflüchteten angesichts der raschen europäischen Hilfsbereitschaft. Immer wieder reflektiert sie auch ihre eigene Rolle, gibt eigene Vorurteile zu, schlechtes Gewissen, Scham angesichts ihrer Privilegien.

Statt Lösungen nur ein paar Überlegungen

Begleitet werden die Geschichten von viel Kontext zur europäischen Flüchtlingspolitik seit 2015 - die soeben ihren Höhepunkt mit der Einigung auf eine Art Abschottung gefunden hat. Die Interviews mit vier Expertinnen am Ende wären da verzichtbar gewesen (in jedem Fall die beiden Interviews mit den Politikern). Am Schluss trumpft Schayani nicht mit "Lösungsansätzen" auf, wie es Experten gern tun, sondern stellt einige eigene Überlegungen an, die sie bescheiden als "Mosaiksteine" bezeichnet. Im Zentrum aber stehen die Geschichten der Geflüchteten. Sie sind mal lehrreich informativ, mal spannend, mal zum Verzweifeln oder schlicht zum Heulen. Schayanis brillante Mischung aus professionellem Journalismus und grundempathischer Haltung ist ein wichtiger Beitrag zu einer Debatte, in der der menschliche Faktor oft keinen Platz findet.

René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.

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