Fall Lübcke:Elf Rätsel und ein Mord

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Galt bereits als „brandgefährlich“, dann verloren die Ermittler ihn aus den Augen: der mutmaßliche Lübcke-Mörder Stephan E. nach seiner Festnahme. (Foto: Uli Deck/dpa)

Der Tatverdächtige Stephan E., der den hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke erschossen haben soll, war dem Verfassungsschutz offenbar besser bekannt, als die Behörde bisher einräumte.

Von Ronen Steinke, Berlin

Der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke taucht elf Mal in einem geheimen Bericht des hessischen Verfassungsschutzes über die rechtsradikale Szene von 2014 auf. Dies hat nun der Verfassungsschutz offengelegt, nachdem die Zeitung Die Welt ihn erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden verklagt hatte. Damit gerät die Behauptung des Verfassungsschutzes in Zweifel, man habe den mutmaßlichen Mörder schon lange nicht mehr auf dem Schirm gehabt und deshalb auch nicht mitbekommen können, wie er sich von 2014 an neu radikalisierte und sich mithilfe eines alten Neonazi-Kameraden über Jahre hinweg illegal Waffen besorgte.

Auf fast 260 Seiten werden in dem geheimen Verfassungsschutz-Papier ("Abschlussbericht zur Aktenprüfung") Hinweise zu militanten Rechtsradikalen zusammengetragen, die einen Bezug zur Mordbande NSU aufweisen könnten. Das Papier war 2012 von dem damaligen hessischen Innenminister Boris Rhein (CDU) in Auftrag gegeben worden. Die Stadt Kassel steht darin im Mittelpunkt. Kassel gilt als Hochburg der rechtsradikalen Szene, dort hatte der NSU im Jahr 2006 den 21-jährigen Halit Yozgat hinter dem Tresen seines Internetcafés umgebracht, in dem Café war damals auch ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Und dort lebte auch der Mann, der nun des Mordes an Walter Lübcke beschuldigt wird, Stephan E.

Seit 2009 hätten die Behörden den Mann nicht mehr intensiv auf dem Schirm gehabt, hieß es

Was genau die Verfassungsschützer 2014 so sehr an Stephan E. interessierte, ist bislang unklar. Denkbar ist, dass sie nur Vorgänge beschrieben, die schon länger zurückliegen. Schon 1995 wurde Stephan E. wegen eines versuchten Bombenanschlags auf eine Flüchtlingsunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt, bis 2009 ist er dann immer wieder mit rechtsradikal motivierten Straftaten aufgefallen. Beachtlich ist allerdings, dass der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, in diesem Juni vor dem Innenausschuss des Bundestages erklärt hatte, die Behörden hätten Stephan E. seit 2009 nicht mehr intensiv auf dem Schirm gehabt. Zuletzt habe E. unauffällig gelebt, daher habe man ihn auch nicht mehr als sogenannten Gefährder geführt.

Als die hessischen Verfassungsschützer Stephan E. im Jahr 2014 noch einmal als eine der wichtigeren Figuren der örtlichen Neonazi-Szene beschrieben, prüften sie da auch, was er gegenwärtig trieb? Falls ja, hätte ihnen einiges auffallen können. Etwa, wie Stephan E. von 2014 an wieder in engem Kontakt mit dem ebenfalls seit vielen Jahren bekannten Kasseler Neonazi Markus H. stand. Wie er angeblich auf dessen Vermittlung begann, illegal Schusswaffen zu kaufen. Wie die beiden gemeinsam auf politische Veranstaltungen gingen und sich dann auch darüber unterhielten, "sich bewaffnen und nunmehr aktiv werden zu müssen". So hat es ein Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs erst in der vergangenen Woche angesichts der inzwischen umfangreichen Erkenntnisse der Ermittler festgehalten.

Dass Stephan E. in dieser Zeit sogar wieder als Gewalttäter aktiv war, ist eine weitere These, die in den vergangenen Tagen zu hören war. Mehr als eine Vermutung ist das aber bislang nicht. Es geht dabei um eine Nacht im Juli 2016. In Lohfelden nahe Kassel wurde ein irakischer Flüchtling von hinten mit einem Messer attackiert, erst eine Notoperation rettete ihn. Schon damals war Stephan E. von den Ermittlern überprüft worden, weil er als ortsansässiger und einschlägig vorbestrafter Neonazi ins Raster passte. Auch existieren nach Informationen der Süddeutschen Zeitung sehr grobkörnige Videoaufnahmen einer Überwachungskamera, die einen per Fahrrad flüchtenden Täter zeigen, der etwa die Statur von Stephan E. hat.

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Der Mann, der den Kasseler Regierungspräsidenten erschossen haben soll, könnte auch einen irakischen Asylbewerber schwer verletzt haben.

Aber schon 2016 war E. dazu befragt worden. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung fand die Polizei jedoch nichts, was als Beweis infrage kam. Eine Gelegenheit, E. schon damals aus dem Verkehr zu ziehen, ergab sich deshalb aus Sicht der Justiz nicht. Von einem hinreichenden Tatverdacht für eine Anklage in jenem Fall war man weit entfernt. Daran hat sich offenbar bis heute nichts geändert, wie eine erneute gründliche Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft Kassel ergab. Die Attacke auf den Iraker bleibt ungeklärt, aber die Akte ist in der vergangenen Woche nach Karlsruhe geschickt worden. Aus organisatorischen Gründen. Der Generalbundesanwalt, der ohnehin die Anklage gegen Stephan E. wegen des Mordes an Walter Lübcke vorbereitet, soll auch diese Informationen vorliegen haben. Für alle Fälle.

Ende des Jahres, so ist zu hören, soll die Anklage gegen Stephan E. fertig sein. Dass er sich dann noch für ein zweites Tötungsdelikt neben dem Mord an Walter Lübcke verantworten muss, gilt bislang als unwahrscheinlich.

© SZ vom 23.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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