Wenn in Libyen Ingenieure untätig zu Hause sitzen, während deutsche Werkstätten verwaisen, wenn die armenische Physiotherapeutin vergeblich von einem Job in Deutschland träumt, während hier die Wartezimmer überquellen - dann stimmt womöglich etwas nicht. So ist der Grundgedanke, aus dem heraus die große Koalition über ein neues Gesetz diskutiert hat. In der Nacht zum Dienstag einigten sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD auf Eckpunkte für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, denen das Bundeskabinett kurz darauf zustimmte. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) stellten die Einigung am Dienstagvormittag vor. Die geplante Neuregelung im Überblick.
Was sind die wichtigsten Maßnahmen?
- Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten sollen künftig für sechs Monate nach Deutschland einreisen dürfen, um auf Jobsuche zu gehen. Die Regelung soll zunächst auf fünf Jahre befristet werden. Bewerber müssen nachweisen, dass sie für ihren Lebensunterhalt aufkommen können.
- Die Anerkennung mitgebrachter Abschlüsse soll beschleunigt und vereinfacht werden.
- Fachkräfte sollen gezielt und gemeinsam mit der Wirtschaft aus dem Ausland angeworben werden.
- Außerdem soll das Deutschlernen schon im Ausland erleichtert werden, dazu will man künftig etwa mit Goethe-Instituten im Ausland zusammenarbeiten.
- Die für Migration zuständigen Behörden - also Visastellen, Ausländerbehörden, Arbeitsverwaltung, zuständige Stellen für die Anerkennung beruflicher Qualifikationen sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - sollen effizienter und transparenter zusammenarbeiten.
Wen betrifft die Neuregelung?
Es handelt sich nicht um ein umfassendes Einwanderungsgesetz. Geregelt wird nur die Migration in den Arbeitsmarkt. Das Gesetz richtet sich an, so Seehofer bei der Vorstellung der Eckpunkte, "qualifizierte ausgebildete Fachkräfte aus Drittstaaten". Menschen aus der EU und eng mit der EU verbundenen Staaten dürfen bereits hier arbeiten. Mit 'Fachkräfte' sind alle gemeint, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, also nicht nur Akademiker. Um Flüchtlinge geht es in dem neuen Gesetz nicht.
Was hat es mit dem "Spurwechsel" auf sich?
Die SPD hat vergeblich darum gerungen, den sogenannten "Spurwechsel" in den Eckpunkten festzuhalten. Die "Spuren", zwischen denen gewechselt werden soll, sind das Asylrecht und das Einwanderungsrecht. Der Wechsel soll abgelehnten Asylbewerbern, die einer Arbeit nachgehen, eine Bleibeperspektive geben.
Den Eckpunkten zufolge soll am Grundsatz der Trennung von Asyl und Erwerbsmigration festgehalten werden. Allerdings wird sinngemäß eine entsprechende Regelung angedeutet: "Wir werden im Aufenthaltsrecht klare Kriterien für einen verlässlichen Status Geduldeter definieren, die durch ihre Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt sichern und gut integriert sind." Geduldete sind abgelehnte Flüchtlinge, die hier bleiben dürfen, weil sie zum Beispiel zu krank zum Reisen sind oder weil ihr Herkunftsland sich weigert, sie zurückzunehmen.
Trotz des Kompromisses haben sich im Wesentlichen Bundesinnenminister Seehofer und die CSU durchgesetzt, die den "Spurwechsel" vehement abgelehnt hatten. Ihre Befürchtung war, durch den Wechsel zwischen Asylrecht und Einwanderungsrecht falsche Anreize für Migration zu schaffen. Eine "Spurwechsel"-Regelung hatte nicht nur die SPD gefordert, sondern etwa auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther von der CDU.
Wieso ist diese Zuwanderung nötig?
Schon heute können viele Unternehmen freie Stellen nicht besetzen. Experten warnen seit Jahren vor dem demografischen Wandel. Er mache Einwanderung dringend nötig. Allein um ihn auszugleichen, müssten pro Jahr etwa 400 000 Menschen zuwandern, so Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Aber nur 126 000 Personen bekamen 2017 einen Aufenthaltstitel, um Arbeit aufzunehmen. Außerdem profitiert die deutsche Wirtschaft nicht nur von der Arbeitskraft der Einwanderer, sondern auch von ihrem Konsum.
Deckt sich das neue Gesetz mit dem Koalitionsvertrag?
Union und SPD hatten sich bereits während der Koalitionsverhandlungen auf die Ausarbeitung eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes geeinigt. Im Koalitionsvertrag heißt es, der Zuzug qualifizierter ausländischer Fachkräfte solle sich orientieren an "volkswirtschaftlichen Erfordernissen" sowie an "Qualifikation, Alter, Sprache, Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzes und Sicherung des Lebensunterhalts". Bedarf und Qualifikation sind im aktuellen Eckpunkte-Papier zentrale Kriterien.
Wo gibt es bereits ähnliche Gesetze und was beinhalten sie?
Bislang hatten verschiedene Politiker, unter ihnen Vertreter von SPD, FDP und Grünen, ein Einwanderungsgesetz nach dem Vorbild Kanadas oder Australiens gefordert. Beide Staaten erlauben Zuwanderung per Punktesystem: Wer mit Sprachkenntnissen, Ausbildung, Anpassungsfähigkeit, Alter und Berufserfahrung eine bestimmte Punktzahl erreicht, darf immigrieren. Auch Neuseeland hat ein Punktesystem für Einwanderer, dort werden jährlich 45 000 Einwanderungstickets vergeben. In Australien wird teils rigoros zwischen den vielen Bewerbern gewählt: An Zuwanderern über 45 Jahren ist das Land oft gar nicht erst interessiert.
In den USA wird die Zuwanderung von hochqualifizierten bis zu ungelernten Arbeitskräften in vier Kategorien unterteilt, die in den meisten Fällen ein Arbeitsangebot vorweisen müssen. Auch Unternehmensgründer oder solche, die in Unternehmen investieren, können Visa erhalten. Zusätzlich verlosen die USA jährlich 55 000 Visa an Bewerber. Die Vergabe der sogenannten Green Cards will die US-Regierung künftig eindämmen. Davon könnten laut New York Times 382 000 Menschen betroffen sein.