Die Tage um den 1. Mai sind zweifelsohne ein politischer Wendemoment in der Pandemie. Die behutsame Öffnung von Schulen und Geschäften, die Diskussion um Urlaub und Reisen, die Rückkehr an die Fließbänder nicht nur bei Volkswagen haben einen großen Hunger geweckt. Hier bricht sich Bahn, was über Wochen aufgestaut wurde.
Die Angst weicht, ein Freiheitsdrang verschafft sich Raum - vielleicht auch nur der ökonomische Überlebensinstinkt, weil nach der Bedrohung für Leib und Leben die Sorge um die Existenz wächst. Masken sind Pflicht und werden zum Symbol dieser Phase. Die eigenen vier Wände schrumpfen auf ein paar Quadratzentimeter Stoff.
Das Gefühl der neuen Freiheit pflanzt sich überall in Europa fort. Italien und Frankreich verkünden Erleichterungen, in Spanien dürfen Kinder nach Wochen der Isolation wieder auf die Straße. In Deutschland wird vielen erst durch diese Bilder bewusst, wie privilegiert sie bisher durch die Krise gegangen sind. In Neuseeland erklärt die Regierung das Virus für besiegt, in den USA demonstrieren sie vor den Parlamenten der Bundesstaaten. Die Welt hat genug von Corona - aber hat Corona deswegen genug von der Welt?
Chaotische Reflexe, wenig abgestimmte Impulse
In der Öffnung bleiben sich Europas Staaten und Deutschlands Bundesländer treu. So wie der Schließreflex unkoordiniert, ja chaotisch zuckte, so wirken auch bei der Öffnung die gleichen, wenig abgestimmten Impulse. Das liegt in der Natur föderaler und dezentraler Systeme, dass sie Gefahren verschieden beurteilen und ihre Werkzeuge unterschiedlich ansetzen. Sechs bis acht Wochen waren offenbar nicht ausreichend, um diesen wichtigen Schritt zur Lockerung in ganz Europa zu koordinieren. So wie die Grenzbäume als Erstes gefallen sind, so werden sie auch als Letztes wieder hochgezogen.
Coronavirus weltweit:New York startet mit ersten Corona-Lockerungen
In der ersten Phase eines vierstufigen Öffnungsplans darf die Arbeit auf den mehr als 32 000 Baustellen der Stadt wieder aufgenommen werden. In Brasilien wächst die Wut auf Präsident Bolsonaro.
Die Öffnung vermittelt ein trügerisches Gefühl der Sicherheit und der Finalität. "Hurra, wir leben noch", war der Stoßseufzer der Erleichterung in grauer Vorzeit. Zur pandemischen Realität 2020 passt das Lebensgefühl der Nachkriegsjahre aber nicht. Die Bundeskanzlerin hat mit ihrem Verzweiflungsausbruch über "Diskussionsorgien" vorausempfunden, was dem Land nun bevorsteht.
Wenn der Konsens erst mal bröckelt wie der Putz an der Fassade, dann lassen sich die Flecken nicht übertünchen. Die große Bereitschaft zur Selbstbeschränkung - sie ist dahin und wird nur unter größten Schmerzen wiederherzustellen sein. Dann nämlich, wenn neue Infektionswellen rollen und für alle klar erkennbar ist, dass die Öffnung vorschnell war.
Der Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble hat mit der ihm eigenen Klarheit und als Mitglied der Hochrisikogruppe darauf hingewiesen: Die Würde des Menschen schließt nicht aus, dass man sterben muss. Die Würde des Menschen - sie steht im Grundgesetz ganz oben und sie umfasst Gleichheit, Religion, Leben, Gesundheit und Arbeit. Wie also die Interessen wägen, wie die Balance zwischen den Grundrechten austarieren?
In der Daseinsfürsorge des Staates sind Freiheit und Sicherheit das ungleiche Paar, das Grundlage aller Abwägungsprozesse bilden muss. Das Bedürfnis nach Freiheit explodiert nun förmlich, nachdem die Freiheit für Wochen beschnitten war. Politiker sind mehr denn je Manager dieser Freiheit. Eine falsche Entscheidung, und die Geschichte wird ungnädig urteilen. Aber sie sind auch ganz normale Mitglieder einer Gesellschaft, die geradezu vibriert vor Erwartung.
Die Lust auf Freiheit kriecht aus allen Poren
In Krisen kommt der kritische Moment immer dann, wenn der Druck, die Anspannung nachlassen. Zu Beginn war die Angst übermächtig, die Bereitschaft zur Unterordnung groß. Nun schwindet die Bereitschaft, und die Lust auf Freiheit kriecht aus allen Poren. Gesellschaften in Europa sind freie und individualistische Wesen. Die Selbstbeschränkung widerspricht all ihren Instinkten. Sie wollen streiten und recht haben. Die Profilierung gehört zum demokratischen Grundprinzip, ob sie nun auf den Vornamen Giuseppe, Armin oder Markus hört.
Dies ist eine Ex-Post-Krise. Hinterher weiß man vieles besser. Und selbst dann wird man möglicherweise nicht schlau sein. Über das richtige Maß der Beschränkung lässt sich ewig streiten. Was bleibt, ist die brutale (und ehrlicherweise auch nicht wirklich korrekte) Formel aus den ersten Krisentagen, auch wenn sie zuletzt in den Hintergrund gedrängt wurde: Geld oder Leben? Welchen Preis ist eine Gesellschaft bereit zu zahlen, um Leben zu schützen?
Diese Entscheidung trifft am Ende wohl keine Kanzlerin, kein Premierminister, keine Ministerpräsidentenkonferenz und kein Kabinett. Diese Entscheidung trifft eine Gesellschaft selbst - durch ihr Verhalten. Gesellschaften haben in der Regel einen wenig ausgeprägten Sinn für die Gefahr. Hingegen haben sie ein gutes Gespür für Mehrheiten und das Bedürfnis der Herde. An diesen Wendetagen im Corona-Frühjahr könnte sie ihr Gespür in die falsche Richtung treiben.