Würde Jesus in Stuttgart einen Tiefbahnhof bauen? Kein Witz, diese Frage. Als das Präsidium des Evangelischen Kirchentags für das Jahr 2015 die Einladung nach Stuttgart annahm, wurde dies auch mit dem Widerstand gegen das Bahnhofsprojekt begründet. "Nachhaltiger Protest und zivilgesellschaftliches Engagement haben eine landesweite Diskussion über die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungen in der Demokratie ausgelöst", hieß es damals, im Februar 2011.
Und heute? Wer zu dem am Mittwoch beginnenden Kirchentag mit dem Zug anreist, wird am Bahnhof sofort mit der offenen Baugrube konfrontiert. Im offiziellen Kirchentags-Programm spielt Stuttgart 21 zwar keine Rolle, aber das Thema wird sehr präsent sein, auch jenseits der Baugrube.
"Jesus würde oben bleiben", den Spruch wollen die Projektgegner unters Kirchentagsvolk bringen. Der Sohn Gottes würde, so heißt das übersetzt, eine überirdische Variante bevorzugen. Also: Lieber Gott, gib uns einen Kopfbahnhof! Und das meinen die Aktivisten nicht als Veralberung des Glaubens. Beabsichtigt ist das eher als Unterwanderung des Kirchentags. Denn von der Amtskirche fühlt sich die Bewegung ausgegrenzt.
"Damit wir klug werden": Das ist die offizielle Losung dieses Kirchentags
Der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist nach wie vor lebendig, mehrere Bürgerbegehren hat man auf den Weg gebracht, die den grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn zwingen wollen, namens der Stadt aus dem Projekt auszusteigen. Und die Bewegung ist nach wie vor auch christlich fundiert. Es gibt zum Beispiel die "Theologinnen und Theologen gegen S21", sie beteiligen sich am Aufruf zu einer Großdemonstration am kommenden Samstag, die unter dem Motto steht: "aus S21 klug werden: oben bleiben!"
Stuttgart 21:Zeichen vergangener Zeit
Die Gegner des Stuttgarter Bahnhofprojekts gehen zum 250. Mal auf die Straße. Ulrich Stübler war schon bei der ersten Demo dabei - er hat das Logo des Protests erfunden. Wie fühlt er sich nach all den Jahren des Widerstands? Als Verlierer?
"Damit wir klug werden": Der 90. Psalm aus der Bibel ist die offizielle Losung dieses Kirchentags. Es wird vermutlich eine sehr politische Veranstaltung werden. IS-Terror, Krieg in der Ukraine, Flüchtlingsströme: Welche Handreichungen kann die Religion der Politik geben? Das Beispiel Stuttgart 21 scheint zu zeigen: Klug werden bedeutet auch, die Grenzen des eigenen Glaubens in der politischen Praxis anzuerkennen.
"Jesus würde oben bleiben" - die "Theologinnen und Theologen gegen S21" erwecken den Eindruck, der Teufel lebe in den Tunneln von Stuttgart.
Kleinere Stuttgarter Bauprojekte: Ein Helfer transportiert zusammengefaltete Papphocker in die Unterkünfte.
Dort werden sie ausgeklappt, zusammengesteckt und aufgebaut. Der Fachbegriff dafür lautet: aufhockern.
Künstliche Kirche: Neben der Bühne im Neckarpark errichten Helfer einen 28 Meter hohen Kirchturm für die Zeit der Veranstaltung.
Würde Jesus in Stuttgart einen Tiefbahnhof bauen? Kein Witz, diese Frage, wird in den Wochen vor dem Kirchentag in Stuttgart diskutiert.
Wer die Predigten von Theologinnen und Theologen zu Stuttgart 21 liest, wer in den Internetforen surft, gewinnt den Eindruck, der neoliberale Teufel lebe in den Tunneln von Stuttgart 21. Der Volksentscheid, der initiiert wurde von der grün-roten Regierung und mit einem Ja zu dem Projekt endete, hat den Streit nicht befriedet. Im Gegenteil, die Theologen predigen nun eine absolute Verachtung des politischen Betriebs, inklusive der amtierenden Regierung. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, ein bekennender Katholik, wird beim Kirchentag aus eigener Erfahrung über das Leben an der Grenze zwischen Glauben und politischem Interessenausgleich berichten.
Gleichstellung der Homo-Ehe, ja oder nein?
Christlich fundiert ist ja nicht nur der Widerstand gegen Stuttgart 21, sondern auch gegen die Bildungspolitik seiner Regierung, konkret: gegen das Ziel, Kinder zur "Akzeptanz sexueller Vielfalt" zu erziehen. Kretschmann selbst ist auf die Pietisten zugegangen, die in der württembergischen Landeskirche mit ihren 2,1 Millionen Mitgliedern sehr einflussreich sind und in der Landessynode die größte Gruppe vor den Liberalen stellen. Aber die Demonstrationen gegen die Bildungsleitlinien haben von ihrer Vehemenz nichts verloren. So gesehen sind beim Kirchentag in Stuttgart auch spannende Debatten über die aktuelle Frage zu erwarten: Gleichstellung der Homo-Ehe, ja oder nein?
Zum dritten Mal nach 1952, 1969 und 1999 ist der Evangelische Kirchentag in Stuttgart zu Gast, mehr als 100 000 Besucher werden erwartet. Nach längerem Anlauf ist es gelungen, für alle Gäste in Stuttgart und Umgebung ein Privatquartier zu finden, "Gräbele" genannt. Das "Gräbele" meint auf Schwäbisch die Matratzenritze im Ehebett. Die Besucher sollen also nicht nur geduldet werden, sondern eine Woche lang mitten unter den Stuttgartern leben dürfen. Was sie der Stadt und dem Land finanziell wert sein dürfen in einer säkularisierten Gesellschaft, darüber ist kurz vor der Eröffnung des Kirchentags eine der üblichen Debatten entbrannt.
Würde Jesus immer wieder nach Stuttgart kommen?
18 Millionen Euro beträgt der Gesamtetat des Kirchentags, rund fünf Millionen trägt das Land, 3,2 Millionen die Stadt Stuttgart. Der Vorsitzende der Piratenpartei bezweifelte den Sinn der Investition und sprach von einer versteckten Subvention von Hotellerie, Gastronomie und Handel. Der Einzelhandel freut sich jedenfalls auf steigende Umsätze. Stuttgarts Marketing-Direktorin verwies auf eine Image-Analyse: Wer Stuttgart einmal besucht habe, komme immer wieder.
Würde Jesus immer wieder nach Stuttgart kommen? Jeder hat sein ganz eigenes Thema bei diesem Kirchentag.